Marina Lobanova

Nikolaj Andrejewitsch Roslawez und seine Zeit

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Von Bockel
erschienen in: das Orchester 06/2021 , Seite 62

Wer war Nikolaj Roslawez? Ein begabter Bauernjunge, der sich aus ärmlichen Verhältnissen zum geachteten Komponisten hocharbeitete? Oder doch eher ein „nicht-adliger Intellektueller“, dessen Vater ein kleiner Beamter war?
Restlos klären kann das auch Marina Lobanova nicht, obwohl sie sich seit Jahrzehnten mit Leben und Werk des 1880 geborenen russischen Künstlers auseinandersetzt. Der Grund ist einfach: Zahlreiche Quellen über die Herkunft Roslawez’ zielen auf eine „Stilisierung und Theatralisierung“ ab. Denn eine bourgeoise Herkunft konnte im Russland nach der bolschewistischen Revolution schnell Probleme bereiten. Andererseits schließt Lobanova nicht aus, dass Roslawez Nachfahre von Leibeigenen eines Adligen sein könnte. Wie dem auch sei, der Bannfluch der Hüter der reinen proletarischen Lehre traf ihn trotzdem, ähnlich wie bekanntlich Schostakowitsch. Nach dieser Lesart galt seine Musik als westlich, dekadent und „formalistisch“.
Das Buch Nikolaj Andrejewitsch Roslawez und seine Zeit entstand bereits in den Jahren 1988 bis 1989 und wurde 1997 erstmals auf Deutsch (in der Übersetzung durch die Autorin selbst) veröffentlicht. Nun liegt es in zweiter, überarbeiteter Form vor. Lobanova hat unzählige Quellen gesichtet, vieles davon überhaupt erstmals wissenschaftlich bearbeitet. An Detailreichtum lässt das Werk nichts zu wünschen übrig. Eine gewisse Nüchternheit im Stil muss man dafür in Kauf nehmen. Der erste Teil zeichnet das Leben des Komponisten nach, der zweite sein Werk und seine Ästhetik. Nach Roslawez Studien am Konservatorium in Moskau wurden fortschrittlich gesinnte Kritiker und Künstler alsbald auf den jungen Mann aufmerksam, der in den 1910er Jahren bald zu den Kreisen der Futuristen gehörte, ohne jedoch all ihre Ideen zu teilen. So hielt er beispielsweise nichts von Geräusch- wie auch von Vierteltonmusik.
Roslawez war nach der Februarrevolution 1917 zunächst ein Anhänger der neuen politischen Bewegung, verließ aber bereits 1921 die Kommunistische Partei. Etwa ab Mitte der 1920er Jahre geriet Roslawez in den Fokus der sogenannten „proletarischen Musiker“, die ihn als „bourgeoisen Kosmopoliten“ diskreditierten. Seine Karriere war damit beendet, er hielt sich mit kleineren Lehraufträgen über Wasser. 1944 starb der Komponist verarmt in Moskau.
Auch nach seinem Tod tat die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung alles, um Roslawez als „Volksschädling“ zu diffamieren. Roslawez hinterließ ein umfangreiches Werk, das, so Lobanova, im Symbolismus und Jugendstil wie auch im Futurismus wurzelt. Sein „System der Tonhöhenorganisation“ ähnelt den Ideen Schönbergs, der Gedanke eines „Synthetakkords“ lässt an Skrjabin denken.
Mit diesem Buch rückt ein wichtiger Teil russischer Musikgeschichte in den Blick. Getrübt wird der Eindruck allerdings durch eine Vielzahl von Rechtschreib-, Komma- und Grammatikfehlern. Unverständlich, dass diese Mängel in einer zweiten Auflage nicht behoben wurden.
Mathias Nofze