Matter, Michael

Niels W. Gade und der “nordische Ton”

Ein musikalischer Präzedenzfall

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2015
erschienen in: das Orchester 07-08/2015 , Seite 65

Seit geraumer Zeit beschäftigt der vormals vielzitierte „nordische Ton“ die Musikwissenschaft in Kiel und Kopenhagen. Die Frage, wes Geistes Kind er sei, trieb auch den Zürcher Doktoranden Michael Matter um, der dem Phänomen eine exemplarische Fallstudie widmete. 2012 als Dissertation eingereicht, gelangte sie nun in überarbeiteter Form in die „Schweizer Beiträge zur Musikforschung“.
Als Zitat tauchte der Begriff wohl erst 1872 auf. Es freue ihn, schrieb der Kölner Kapellmeister Ferdinand Hiller an Gade, in dessen achter Symphonie „jenen Dir eigentümlichen nordischen Ton wieder angeschlagen zu hören“. Fortan findet sich die Wendung in Musikzeitschriften. Vorher war viel vom „nordischen Charakter“ (Schumann) oder Kolorit die Rede, verbunden mit Metaphern wie „Nebel“ oder „Hauch“.
Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich der „nordische Ton“ nicht allein am Notentext erweisen lässt, sondern letzten Endes ein „Produkt diskursiver Praxis“ ist (einfacher gesagt: des öffentlichen Musikgesprächs). Weshalb Matter seine Arbeit als „Diskursanalyse im weitesten Sinne“ versteht – vermittelnd zwischen Werk, Rezeption und deren Verankerung in einer übergeordneten, „von Ideen und Ereignissen konstituierten Wirklichkeit“. Sie führt zu der Erkenntnis, Gades „nordischer Ton“ sei nichts anderes als „die erste sinfonische Konkretisierung des Nördlichkeitsdiskurses“.
Kernstück der Schrift ist die Analyse von Gades Frühwerk, das im Leipzig Mendelssohns und Schumanns enthusiastische Aufnahme fand, voran die Ouvertüre Efterklange af Ossian und die Symphonie Nr. 1 in c-Moll. Im Fokus steht die Schaffenszeit 1840 bis 1848. Der Analyseteil beginnt mit der Ossian-Ouvertüre und endet mit der Symphonie Nr. 3 in a-Moll. Was an sinfonischen Werken folgte, kommt insoweit zur Sprache, als es der weiteren Abklärung des Präzedenzfalls dient. Die Rezeptionsverläufe sind in den Analyseteil eingearbeitet. Dazu nutzt Matter vor allem Briefe und Tagebücher zeitgenössischer Komponisten und Musiker nebst einer Fülle von Rezensionen und Porträts aus musikalischen Fachzeitschriften.
Interessanterweise fördert Matter eine Reihe von Topoi zutage, die auch in der Literatur und Malerei jener Zeit wirksam waren. Unter ihnen der greise, der verlorenen Zeit nachhängende Barde Ossian – eine Fiktion des schottischen Dichters James Macpherson – und der bildnerische Dreiklang aus Einsamkeit, Erhabenheit und Melancholie, der Caspar David Friedrich mit dem Norweger Johann Christian Dahl verbindet (kleine Korrektur zu dessen „Hünengrab“: Vordingborg liegt auf der dänischen Insel Seeland).
In der 4. Symphonie gewahrte die Kritik nach 1850 einen „neuen Topos der Lieblichkeit“: eine Wendung zum „graziösen“ Stil, der den „nordischen“ verdrängte – parallel zur Entdeckung des „lieblich Land im Schatten breiter Buchen“, wie es im dänischen Vaterlandslied heißt. Dazu passen die idyllischen Landschaften von Peter Christian Skovgaard und Johan Thomas Lundbye, die der „existenziellen Sehnsucht“ Søren Kierkegaards nahe kommen.
Lutz Lesle