Werke von Edgar Varèse und Ludwig van Beethoven
Neue Wege
Junge Deutsche Philharmonie, Ltg. Jonathan Nott
Bekanntermaßen kam es bei der Uraufführung am 2. Dezember 1954 im Théâtre des Champs-Élysées Paris zum lautstarken Skandal. Begeisterung entfesselte dagegen die Aufführung von Edgar Varèses Déserts durch die Junge Deutsche Philharmonie. Der anstrengende Part der vierzehn Streichinstrumente, eines Klaviers und von 47 Schlagwerkzeugen für fünf Spieler ist bei den jungen Spitzenmusikern in den richtigen Händen.
Doch die Aufzeichnung hat vor allem dokumentarischen Wert: Die elektronische Wiedergabe überflutet die Instrumentalsätze und das Publikum in der nicht ausverkauften Philharmonie von allen Seiten. Farbskalen von Weiß und am Ende in Ultramarin wirken wie ein Teil der Partitur. Varèse teilte den Musikern Haltetöne, Klänge und Flächen zu. Die akustischen Bewegungen im Raum sind ebenso das innere Thema von Déserts wie die elektronischen Zuspielungen in ihren flächenhaften Fortschreitungen.
Die Produktion dieser DVD ist durch das erste Werk dieses Konzerts aus der Berliner Philharmonie von September 2016 vollauf legitimiert. Denn neben dem umfangreichen elektronischen Sound-Environment spielt auch das Licht eine bedeutende Rolle. Varèse nannte die Zuspielungen zwischen den Teilen für die Instrumentalisten son organisé, um wertende, organisatorische oder technische Begriffe zu vermeiden. Er wollte, dass alle Parameter als Einheit verstanden werden.
Jonathan Nott hat als Musikdirektor des Orchestre de la Suisse Romande und des Tokyo Symphony Orchestra viele Gelegenheiten zur künstlerischen Selbstverwirklichung. Bei seinen Auftritten mit der Jungen Deutschen Philharmonie konzentriert er sich vor allem darauf, den Ensemblegeist der jungen Persönlichkeiten zu stärken. Bei einem so bekannten und aus allen Perspektiven erschlossenen Werk wie Ludwig van Beethovens Eroica zeigt sich der meisterhafte Nicht-Charakter des Jungen Deutschen Philharmonie deutlich: Alles ist perfekt Intonation, Beachtung von Interpretationszeichen und Dynamik sowie die Proportion der Instrumentengruppen in der sagenhaften Akustik der Berliner Philharmonie.
Der durchweg helle, brillante Klang findet aber nicht einmal im Trauermarsch zur heroischen oder emotionalen Verdüsterung. Es wirkt fast so der Haltung von Herbert von Karajans klangfetischistischen Aufnahmen nicht unähnlich , als suche die Wiedergabe Distanz zu Entstehungsbedingungen und Wirkungsgeschichte. Deshalb fehlt es an emotionaler Nähe, es fehlt am Aufeinander-Hören, das sich durch Vertrautheit verdichtet, und an der Erfahrung von Reibungsverlusten durch Spannungsabfall in weniger fordernden Konstellationen. Wie soll dies in den Arbeitsphasen und bei der hohen Zahl der Wechsel in den Stellen auch entstehen?
Dennoch: Der Glanz und der vernehmbare Ehrgeiz für das bestmögliche Resultat sind eine außergewöhnliche Konstellation, durch die Projekte wie die Aufführung von Varèses Déserts oder die Auftritte mit der Tanzcompany von Sasha Waltz den Reiz des Außer-ordentlichen gewinnen.
Roland H. Dippel