Michael Thumser
Hof: Neue Ufer unter Wasser
Die Hofer Symphoniker trotzen als Konzert- und Theaterorchester einer Zeitenwende voller Zwischenfälle
Wer sich davon überzeugen will, wie sich während einer „Zeitenwende“ Geplantes und Fatales durchmischen, der muss nicht erst, wie gegenwärtig, auf die nationale und internationale Lage schauen. Oft genug reicht ein Blick auf die kleine Welt der Heimatkommune, manchmal der auf ihre Kultur.
In Hof, zum Beispiel, teilte Ingrid Schrader im März 2021 nach dreizehn Jahren als Intendantin der Symphoniker überraschend mit, sich vom Amt zurückzuziehen. Längst hatte da das Corona-Virus das öffentliche Leben und also auch das kulturelle ins Chaos gestürzt. Während die Symphoniker noch Mittel und Wege erprobten, heil durch die Krise zu kommen und gleichzeitig die Führungsfrage zu lösen, schlug im Theater, als dessen Orchester sie neben ihrer reichen Konzerttätigkeit seit jeher fungieren, ein Blitz nach dem anderen ein.
Weil das 1994 eingeweihte, nach wie vor schmucke, gleichwohl in die Jahre gekommene Haus nicht länger auf eine Renovierung warten konnte, wuchs als Interimsspielstätte direkt neben der Baustelle eine komfortable Halle, die „Schaustelle“, empor. Allerdings hielt der Generalunternehmer sie monatelang verschlossen, um einen Rechtsstreit mit der Stadt auszusitzen. Als schließlich der Spielbetrieb im sanierten Stammhaus Anfang Februar dieses Jahres wieder Fahrt aufnahm, löste ein Angestellter aus unerfindlichen Gründen die Sprinkleranlage aus: Knöchelhoch stand das Wasser auf Portalbrücken, Bühne und Unterbühne.
Land unter im Theater. Bei den Symphonikern indes fruchtete der Fleiß, Fahrt zu neuen Ufern aufzunehmen. Im Rennen um den Chefposten setzte sich Cora Bethke durch. An Neujahr trat sie das Amt der Intendantin an; an ihrer Seite: Oliver Geipel als kaufmännischer Geschäftsführer. Zuvor hatte Bethke, ausgebildete Sängerin und studierte Musikologin, elf Jahre lang das Betriebsbüro geleitet. Nun zeichnet sie für die Konzertfolge der kommenden Spielzeit verantwortlich – und die kann sich sehen lassen. Zwar schöpft das Orchester, das bei vier Hofer Symphoniekonzerten von seinem Conductor in Residence Hermann Bäumer geleitet wird, auch aus dem klassisch-romantischen Repertoire, aber selbst dann veredeln Überraschungen oder namhafte Interpret:innen die Programme. So dirigiert Pianist Christian Zacharias zwei reine Beethoven-Abende im Dezember und im Juni. Für Antonín Dvořáks Violinkonzert Ende Oktober konnte Antje Weithaas als Solistin gewonnen werden, für Mozarts A-Dur-Konzert im Mai der Klarinettist Sebastian Manz, und im Juli tritt Albrecht Mayer als Oboist und Dirigent in einer Person vor die Symphoniker. Die setzen sich überdies mit hierorts noch nie gegebenen Partituren auseinander, etwa mit der zu Schostakowitschs elfter und Hans Rotts erster Symphonie oder mit Hector Berlioz’ Harold in Italien. Ungewöhnlich auch: Zwei Mal stehen Komponistinnen prominent im Programm, im Mai „der weibliche Beethoven“ Emilie Mayer, schon im Oktober die US-amerikanische Spätromantikerin Florence Price. Ergänzt werden die Hofer Symphoniekonzerte durch vier Kammerabende, so viele wie noch nie.
Aller Schicksalsschläge ungeachtet, setzte gegenüber das Theater ein kleines Wunder ins Werk: Zwar musste die Intendanz Premieren verschieben, liegen aber blieb keine Produktion. Was sich in kleinem Rahmen spielen ließ, wurde auf die schadlos gebliebene Vorbühne verlegt; was besonders überzeugend mit John Kanders Cabaret gelang. Große Oper in notgedrungen veränderter Gestalt gab’s auch: Wenigstens konzertant erreichte Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor das Publikum – und stieß auf jubelnde Begeisterung.
Aus der fast klischeehaft schmetternden und schmachtenden, weniger mit Nuancen gesättigten Partitur bezog Dirigent Ivo Hentschel tonmalerisches Material genug, um das Orchester souverän beim Bau plastischer Klangkulissen von robuster Stabilität anzuleiten. Vor ihnen entfaltete sich Aleksandra Olczyks wohldosiert vitaler, durch und durch expressiver Sopran als greifbare dramatische Gestalt: In der Titelrolle lag dem polnischen Jungstar besonders das innig Inständige, Flehentliche; nicht minder freilich kamen ihr die Koloraturen zupass, die ihr die Rolle reichlich abverlangt, sodass ihr Gebaren Spuren einer stillvergnügten Koketterie ahnen ließ. Gerade weil das Szenische fehlte, lief das übrige Ensemble – darunter der großartige Marian Müller als zorneifernder Enrico – nicht Gefahr, an die Wand gespielt zu werden: Die dialogische Dichte in der siebenköpfigen Sängerriege, ihr beschwörender Wohllaut namentlich während des berühmten, großartig voluminös glückenden Sextetts machten wett, was an Bühne und Bildern notgedrungen nicht zur Stelle war.
In der Spielzeit 2022/23 soll alles wieder anders werden: wieder „normal“. Sofern die Bühne trocken bleibt. Solange das Corona-Virus mitspielt. Oder richtiger: falls es darauf verzichtet, mitzuspielen.