Erkki-Sven Tüür
Mythos
Estonian Festival Orchestra, Ltg. Paavo Järvi
Der 1959 geborene estnische Komponist Erkki-Sven Tüür mag Extreme und meistert Synthesen. Studiert hat er Schlagzeug und Flöte; Unterricht in Komposition nahm er bei Jaan Rääts und Lepo Sumera. In Karlsruhe beschäftigte er sich mit elektronischer Musik, und Studien zur Alten Musik betrieb er auch. 1979 gründete Tüür das progressive Rock-Ensemble „In Spe“, dem er bis 1983 als Flötist, Schlagzeuger und Sänger angehörte und für das er viele originelle Stücke komponiert hat. Seit 1992 freiberuflich tätig, schuf er zahlreiche Auftragswerke für renommierte Solisten, Ensembles und Institutionen. Sorgten zuvor Stücke für Rockgruppe allein oder in Kombination mit Männerchor, Blockflöten, Cembalo oder Synthesizer für Aufsehen, so brachten ihm nun Sinfonien sowie Orchester- und Kammermusikwerke mit modernen Techniken, seriellen Strukturen und vielfarbigen Klängen Anerkennung.
Die Sinfonie Nr. 9 “Mythos” entstand im Auftrag des Regierungsbüros von Estland anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Repub- lik und wurde 2018 in Tallinn und in Brüssel vom Estnischen Festival-Orchester unter Paavo Järvi uraufgeführt. Tüür will in der Musik eine Welt erschaffen, deren Vielfalt und Komplexität auch ein Spiegel der realen ist. Ausgangspunkt seiner Suche nach nationaler Identität sind unter anderem die Wasservogel-Mythen der finno-ugrischen Stämme. Und so beginnt der lange, windungsreiche und vielsträngige Fluss der Musik im Nichts, in einer dunklen Wasserfläche vor der Schöpfung und führt am Ende zu hoffnungsvollen Horizonten. Das „Ur-Meer“ der Geigen, Naturtöne als Keimzellen, Achsenklänge als Entwicklungspunkte und Mikro- intervalle als Unschärfen sind das bezeichnende Material der Komposition.
Doch deren Verlauf ist ebenso wenig eine Tondichtung oder sinfonische Erzählung wie jener von “Sow the Wind …”, der auf ähnlichen Klangmustern, Transformationen und anwachsender Dynamik beruht. Das 2015 in Paris uraufgeführte Werk nimmt das Bibelwort „Denn sie säen Wind und ernten Sturm“ zum Anlass, um mit seiner Musik für die beunruhigenden Prob- leme und irreversiblen Prozesse zu sensibilisieren, die Folgen des rücksichtslosen menschlichen Handelns sind. Dabei wird das Orchester zu einer riesigen Maschine, die, vom Rock-Schlagzeug angetrieben, schließlich gegen eine unsichtbare Wand prallt und verschwindet.
Energisch und prägnant präsentiert sich “The Incarnation of Tempest”. Das „Encore-Stück“ wurde 2015 durch die Bamberger Symphoniker uraufgeführt und hat sich seither auch als wirkungsvolle Konzert-Ouvertüre bewährt
Für Tüür ist diese CD nicht nur wegen der Einspielungen durch das Estnische Festival-Orchester, ein international besetzter Spitzenklangkörper, der sich als Botschafter in der Welt und als Brückenbauer in der Region versteht, von besonderer Bedeutung. Sie ist es auch, „weil sie den 25. Jahrestag meiner intensiven kreativen Zusammenarbeit mit Paavo darstellt – obwohl es eigentlich schon 40 Jahre her ist, dass wir als Schüler der Tallinner Musikhochschule Freunde wurden.“
Eberhard Kneipel