Johnson, Evan

My pouert an goyng ouer

für Bariton, Bassklarinette, Trompete und Posaune, Spielpartituren

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Edition Gravis, Brühl 2015
erschienen in: das Orchester 07-08/2016 , Seite 69

Wer sich lesend und nachdenkend einer Partitur mit zeitgenössischem Notenbild nähert, wird sich vom ersten optischen Eindruck nicht abschrecken lassen. Bevor man sich mit den musikalischen Inhalten befasst, müssen hier jedoch erst einmal sieben DIN-A4-Seiten gründlich erfasst werden: Johnson gibt allgemeine Hinweise zu Aufstellung, Ausführung, Notation und den Notationssymbolen für das gesamte Ensemble. Hinzu kommen noch spezifische Anweisungen für die einzelnen Instrumente bzw. den Bariton. Diese Anweisungen dienen dazu, das im Wesentlichen extrem leise Stück angemessen, den Wünschen des Komponisten entsprechend, aufzuführen. An dieser Stelle sei der Gedanke erlaubt, ob es nicht sinnvoll wäre, während der Probenarbeit den Komponisten zu Rate zu ziehen.
Für Musiker, die das Englische nicht als Muttersprache beherrschen, ist es durchaus mühsam, sich in den Inhalt zu vertiefen. Der Text, zu singen vom Bariton, fußt auf einer altenglischen Bibelübersetzung, der Wyc­lif-Bibel (Wycliffe-Bible) von 1402, auf Abschnitten aus dem „Buch der Klagen“, also den Klageliedern des Jeremias. Es wäre für den modernen Menschen, gleich welcher Provenienz, wohl hilfreich, den gesamten Text in einer Gegenüberstellung altenglischer und moderner Sprache lesen zu können.
Die Partitur vorab zu studieren bedeutet in erster Linie, sich einen kontemplativen, meditativen Zustand vorzustellen. Das musikalische Fließen im Zustand innerer Ruhe bedingt allerdings höchste Aufmerksamkeit im Hinblick auf die komplizierten rhythmischen Anforderungen sowie auf die dynamischen Anweisungen, die sich zwischen p und ppppp bewegen; somit bedarf das Werk sorgfältigster Vorbereitung. Nicht zuletzt, weil die quasi manuskripthafte Partitur mit ihren sehr klein geschriebenen Anweisungen stellenweise beinahe unleserlich ist, man sich manches nur auf dem Weg der verbalen Schlüssigkeit erahnend konstruieren kann. Hinzu kommt, dass der Komponist außer gelegentlichen Bemerkungen in Englisch, seiner Muttersprache, sich fast ausschließlich des in der Musik üblichen italienischen Idioms bedient, was hier aber mehr als nur rudimentäre italienische Sprachkenntnisse erfordert.
Zusammenfassend kann man sagen: Mit Freude am intensiven Nachdenken, Neugier auf altenglische Texte, die Grenzen des „nur Spielens“ überschreitenden Wissens- und Hörens-Durst wird das Stück eine musikalische und intellektuelle (!) Erfahrung bieten, die über Gewohntes weit hinausgeht. Ob es sich über die New Yorker Uraufführung hinaus bewähren wird, lässt sich kaum vorhersagen.
Peter Hoefs