Tewinkel, Christiane
Muss ich das Programmheft lesen?
Zur popularwissenschaftlichen Darstellung von Musik seit 1945
Eine Habilitationsschrift, also eine wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung einer Professur, als gewöhnliches Buch herauszugeben, ist ein gewagtes Unterfangen, sind Inhalt und Sprache wissenschaftlicher Arbeiten für den normalen Leser doch eher schwer verdauliche Kost. Nicht so beim neuen Werk von Christiane Tewinkel. Es kann sich als leicht überarbeitete Version ihrer Habilitationsschrift aus dem Jahr 2013 durchaus sehen lassen.
Die promovierte Musikwissenschaftlerin und Journalistin hat sich einem für den Konzertbetrieb durchaus relevanten Sujet gewidmet: dem Programmheft. An Beispielen der Programmhefte der Berliner und Münchner Philharmoniker aus der Zeit zwischen 1945 und 2011 entwickelt sie eine faszinierend facettenreiche Untersuchung zur populärwissenschaftlichen Darstellung von Musik. Dass sich die Autorin dabei auf die Programmhefte aus Berlin und München beschränkt hat, ist ebenso vernünftig wie vertretbar. Andernfalls wäre die Materialfülle völlig undurchdringlich und der Ertrag mutmaßlich nicht größer gewesen.
Wie sind historisch Programmzettel und -hefte eigentlich entstanden? Warum werden überhaupt noch Programmhefte verfasst? Wer sind die Redakteure und Autoren, wer die Zielgruppen? Wie haben sich Textarten und Layout entwickelt? Und wie steht es insgesamt um den Konzertbetrieb? Schon diese sehr kleine Auswahl von Fragestellungen zeigt, wie komplex ein auf den ersten Blick einfach erscheinendes Thema am Ende sein kann. Und so geht es am Ende um weit mehr als um eine kleine Kulturgeschichte des Programmhefts. Es geht vielmehr um die Entwicklung des Konzertbetriebs der vergangenen 70 Jahre und Antworten auf die interessante Frage, wie Generationen von Dramaturgen und Programmverantwortlichen jeweils versucht haben, die Inhalte von Konzertprogrammen sprachlich, bildlich und vor allem allgemeinverständlich Generationen von Konzertbesuchern nahe zu bringen.
Ein Beispiel: wurden früher in Programmheften wie bis heute in Konzertführern üblich Notenbeispiele oder Partiturauszüge abgedruckt, wird heute darauf weitgehend verzichtet. Druckbild, Programmheftformate, Textlängen und wissenschaftlicher Anspruch der Erläuterungen sind Parameter, die jeweils auch ein Spiegelbild gesellschaftlicher Entwicklungen und Gewohnheiten rund um den Konzertbetrieb der vergangenen Jahrzehnte dokumentieren.
Dies alles wird von Tewinkel sehr spannend dargestellt und mit vielen kleineren Randgeschichten und historischen Entwicklungen rund um die Münchner und Berliner Philharmoniker, aber auch um den Konzertbetrieb und das sich verändernde Konzertpublikum verbunden. Wer als Musiker selbst gelegentlich Konzerte moderiert, als Dramaturg oder Orchestermanager für Programme und Programmhefte verantwortlich ist oder wer als interessierter Konzertbesucher einfach nur Lust auf gute Lektüre rund um den Konzertbetrieb hat, der wird dieses Buch (und sein nächstes Programmheft) mit großem Gewinn lesen.
Gerald Mertens