Georg Etscheit

Musizieren gegen den Untergang

Der Dirigent und Umweltschützer Enoch zu Guttenberg

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott
erschienen in: das Orchester 01/2021 , Seite 64

Sein Tod kam überraschend. Als Enoch zu Guttenberg im Juni 2018 mit 71 Jahren verstarb, herrschte Schockstarre: nicht zuletzt bei der Chorgemeinschaft Neubeuern, dem Orchester der „KlangVerwaltung“ und den Herrenchiemsee-Festspielen. In seinem „biografischen Porträt“ möchte Georg Etscheit das Sein und Wollen Guttenbergs ergründen, den Dirigenten genauso wie den flammenden Umweltschützer. Die Ausführungen des Journalisten sind dort am stärksten, wo es um die Wechselwirkungen zwischen der Familientradition und dem persönlichen Denken Guttenbergs geht: der Widerstand der Familie in der NS-Zeit, der katholische Glaube und die Naturliebe.
Der studierte Politologe sowie Osteuropa-Historiker nimmt Guttenberg ernst, manchmal zu ernst – ohne humorvolle Distanz. So war Guttenberg früh ein energischer Gegner der Atomkraft, um später auch gegen die Stromgewinnung aus Windkraft und Sonnenenergie zu poltern: weil die Windräder und Photovoltaik-Anlagen ganze Landstriche verschandelten. Wie der Strom alternativ gewonnen werden soll, ließ Guttenberg offen und forderte einen „Verzicht auf überzogenen Wohlstand“. Für einen Baron ist das nicht unproblematisch. Etscheit, wie Guttenberg ein Kritiker der Energiewende, sieht solche Widersprüche, um sie wertneutral zu dokumentieren. So auch die „Plagiatsaffäre“ um den Sohn und früheren Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. Und die Musik? In chronologischer Detailarbeit skizziert Etscheit die Entwicklung Guttenbergs zum Dirigenten: von den ersten Konflikten mit dem Vater bis zur Freundschaft mit Kent Nagano.
Als „Bekenntnismusiker“ mit viel Haltung und Temperament hat es Guttenberg geschafft, aus der Chorgemeinschaft Neubeuern ein Spitzen-Vokalensemble zu formen. Mit der „KlangVerwaltung“ konnte er ab 1997 auch seinen Instrumentalstil schärfen. Wo Guttenberg aber interpretatorisch steht, bleibt leider zu vage. Es werden vornehmlich Kritiken und Programmhefte zusammengetragen. So wird Guttenberg zitiert, wonach man das Handwerkzeug von Dirigenten wie Nikolaus Harnoncourt oder John Eliot Gardiner „gut nutzen“ und gleichzeitig „sehr viel stärker emotionalisieren“ sollte.
Dass sich zudem der „Spätstil Guttenbergs“ historisch informiert gibt, samt dosiertem Vibrato, reicht als Erkenntnis ebenso wenig aus. Weitaus erhellender ist die Tatsache, dass Guttenberg seinen Lieblingssymphoniker Anton Bruckner ähnlich vibratolos gestalten ließ wie Roger Norrington. Auf ihn kommt Etscheit gar nicht zu sprechen. Zu Gardiner fehlt wiederum der wichtige Hinweis, dass Guttenbergs Sicht auf das Mozart- und Verdi-Requiem eng mit dessen Interpretationen verbunden sind. Gerade das Verdi-Requiem zeigt zudem, dass Guttenberg in seinen Deutungen über die Jahre weitaus konstanter und stabiler war, als Etscheit schreibt. Dafür aber wird deutlich, wie sehr sich derzeit wache, aufmüpfige Ethik als Haltung rarmacht.
Marco Frei