Pierre Wissmer

Musique Symphonique & Concertos

Paul Meyer (Klarinette), Thibault Cauvin (Gitarre), Orchestre de Douai Région Hauts-de-France, Ltg. Jean-Jacques Kantorow

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Claves 50-3018/19, 2 CDs
erschienen in: das Orchester 11/2021 , Seite 77

In Frankreich galt er zu Lebzeiten bis zu seinem Tod 1992 in dem kleinen provenzalischen Ort Valcros, wo er viele Sommerwochen und später seinen Lebensabend verbracht hatte, als Komponist und Dirigent von Rang. Das galt erst recht in der französischsprachigen westlichen Schweiz, deren lebendige Musikszene nicht nur Ernest Bloch oder Frank Martin repräsentierten, die beiden deutlich älteren Komponistenkollegen. Rechts des Rheins ist Pierre Wissmer ein nahezu Unbekannter geblieben. Zu Unrecht.
1915 in Genf als Sohn eines waadtländisch-russischen Arzt-Ehepaares geboren, blieb er ein Unzeitgemäßer. Mit neun Sinfonien, je drei Klavier- und Violinkonzerten und je einem Konzert für Klarinette, Fagott, Gitarre und Trompete genoss er den Ruf eines gewieften Sinfonikers, der sich auf farbenreiche Orchestrierung und perfekte polyfone Komposition von klarem Ebenmaß verstand. Solch lichte französische Tugenden verband er mit Schweizer Präzision und schwelgenden Ausbrüchen des slawischen mütterlichen Temperaments. Das ist für einen Komponisten, der sich in keine Schublade einordnen lässt, eine spannende Mischung.
Das Verdienst des auch als Geiger hervorgetretenen Dirigenten Jean-Jacques Kantorow und des Orchestre de Douai Région Hauts-de-France im äußersten Nordosten Frankreichs um eine Wiederbegegnung mit Pierre Wissmers facettenreichem Schaffen kann man nicht hoch genug einschätzen. Für das Schweizer Label Claves ist im Pandemie-Herbst 2020 im Auditorium Henri Dutilleux in Douai eine Ersteinspielung entstanden. Strawinsky und die 1918 gegründete Groupe des Six feiern im Divertimento von 1953 fröhliche Urständ mit trockenem Klangbild, überschäumender Vitalität, aufgekratzten Bläsern und einem hüpfenden Rondo-Galopp im Finale. Im ebenso knapp verdichteten Klarinettenkonzert von 1960 meldet sich Spitzenklarinettist Paul Meyer sprunghaft keck, ja sympathisch vorlaut zu Wort, um alsbald einen sehr entspannten Dialog mit dem Orchester zu suchen.
Die Magie iberischer Farben kostet Thibault Cauvin, weltweit meistausgezeichneter Gitarrist, im Gitarrenkonzert von 1954 aus. Eine Rarität von somnambulem Reiz, gediegen im Orchestersatz mit versonnenen Soli und einem Allegro von Scherzo-Format, dessen Rondo sich wieder als kunstvoll gefügtes Fugato entpuppt. Auch hier überzeugen ein plastisches Klangbild und die Klangqualität der Aufnahme.
Aus Archivaufnahmen von 1976 und 1965 hinzugefügt ist eine zweite CD. Das pulsierende dritte Klavierkonzert mit Yuri Boukoff und dem Orchestre symphonique de RTL unter der Leitung von Louis de Froment zeigt den Erfindungsreichtum des zeitweiligen RTL-Programmdirektors und späteren Professors für Komposition und Orchestrierung am Genfer Konservatorium. Grandios in ihrer expressiv aufgeladenen Dramatik und scharf kontrastierendem zarten lyrischen Gespinst wirkt eine halbstündige, von ihm selbst geleitete Kostprobe seiner Bühnenmusik: die Suite symphonique aus dem Orpheus-Ballett Alerte, puits 21!
Bernd Aulich