Allwardt, Ingrid

Musikvermittlung

Generation 3.0

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 07-08/2011 , Seite 10
Es gibt Wörter, deren Sinn sich nur stockend erschließt und die für jeden etwas anderes bedeuten. Manchmal klaffen die Bedeutungen sehr grundsätzlich auseinander, manchmal sind es aber gerade die feinen Unterschiede, die ins Auge springen; ihre Wahrnehmung zeigt etwas über die Ausprägung des Unterscheidungsvermögens. Das Aufspüren dieser feinen Unterschiede aber motiviert, meist selbstverständlich aufgefasste kulturelle Vorlieben und Praktiken zu prüfen. Auf das Wort Musikvermittlung trifft das uneingeschränkt zu und deutlich wird in der derzeitigen Diskussion: Musikvermittlung ist ungleich Musikvermittlung.

Anstelle eines grundsätzlichen Artikels zum Thema dieser Ausgabe soll eine Art Vorwort stehen. Ein Wort, das am Anfang eines Buchs, einer Zeitschrift oder einer Partitur steht, das aber seinem Wesen nach ein Nachwort ist. Gelesen werden möchte es zu Beginn, geschrieben wird es allerdings erst zum Schluss, wenn schon alles erledigt ist. So verhält es sich auch mit diesem Beitrag: Er möchte hinführen auf Beobachtungen und Positionen einer Entwicklung, die derzeit äußerst virulent ist. Davon zeugen kürzlich erschienene Bücher, Artikel, Beilagen, Studien und Kommentare.* Über Musikvermittlung wird inzwischen auf unterschiedlichen Ebenen diskutiert, und so vielfältig die Vermittlungsmethoden und -ansätze sind, so unterschiedlich sind auch die Stimmen, die vor diesem Hintergrund verschiedene Perspektiven aufzeigen. Beim netzwerk junge ohren beobachten wir in unserer alltäglichen Arbeit sowohl diese Diskussionen um den Begriff als auch das Entstehen diverser Einsatzfelder und -möglichkeiten, die Entwicklung von Ausbildungsmodulen an Hochschulen und Weiterbildungsinstitutionen, die steigende Professionalität der Durchführung sowie die wachsende Anerkennung der Leistung und Güter.
Auf den folgenden Seiten kommen Orchestermusiker, Konzertveranstalter, Programmgestalter und Journalisten zu Wort, die zusammen mit dem netzwerk junge ohren über den Stand der Diskussion und perspektivische Entwicklungen reflektiert haben. Stimmen, die mahnen (Holger Noltze: Die Leichtigkeitslüge, herausgegeben von der Körber-Stiftung), die polemisieren (Hans Christian Schmidt-­Banse: „Wider den grimmigen Belustigungs-Furor“) und kritisieren (Juan Martin Koch: „Wie vermittelt man eigentlich eine Preisverleihung?“) werden aufgegriffen, überprüft und weiterdiskutiert.
Die Stimme der Ökonomie bringt darüber hinaus einen neuen Gedanken ins Spiel: Entwickelt sich hier ein neuer Markt? Deutlich wird in der Konstellation der verschiedenen Stimmen das divergierende Begriffsverständnis. Doch auch wenn verschiedene Begriffsschemata den Bezug auf die „Sache selbst“ mitunter erschweren, so ist mit dieser Bewegung des Sich-wechselseitig-aufeinander-Einstimmens doch ein grundlegender Sinnzusammenhang eröffnet, der das Sprechen über den Gegenstand erst möglich macht. Noch vor vier Jahren wäre die Diskussion in der belebenden Vielfalt auf unterschiedlichen Ebenen nicht denkbar gewesen. Heute findet sie nicht nur statt, sondern auch Gehör. Diese Ausgabe sammelt Stimmen und stellt Beobachtungen an mit der Botschaft: Bitte hier nicht stehen bleiben, sondern neuen Impulsen Raum geben.

Neue Wege – Neue Felder

Neues entsteht nicht, wo Verständigung reibungslos funktioniert und kulturelle Muster uns die Orientierung erleichtern. Es entsteht, wo wir nicht unmittelbar verstehen und unsere Ordnungsmuster scheitern. Die daraus entspringende Dynamik kultureller Innova-
tion kann zwar rückblickend als kontinuierliche Entwicklung beschrieben werden, tatsächlich resultiert sie aber aus Brüchen und fordert reflexive Kompetenz: Jede Kultur pflegt andere Sitten. Jede Kultur unterscheidet sich in den Hinsichten, in denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft je gegenwärtig ausgetragen werden. Jede Kultur legt andersartig Wert darauf, dass Individuen als Individuen mit ihren Dissenschancen und Konsensabsichten zur Geltung kommen. Wer sich kulturell für identisch hält, vergisst, dass er seine Identität aus dem Vergleich gewonnen hat und der und das Andere daher im Zentrum dieser Identität sitzt. Kultur bedeutet, Gründe bereitzustellen, die es ermöglichen, das, was der eine feiert, vom anderen kritisieren zu lassen. Sie stellt Interpretationsspielräume zur Verfügung, ein Gedächtnis der Gesellschaft mit Blick auf eine offene Zukunft. Die Beziehungen zwischen Vielheit und Einzigartigkeit gehören zu den elementaren, fundamentalen Merkmalen von Kultur.
Musik und ihre Vermittlung spielt in diesem Beziehungsgeflecht von Kulturmerkmalen eine spezifische Rolle. Sie entwickelt jenseits begrifflicher Strukturen einen eigenen Modus der Verständigung. Die Steuerung erlebter Zeit ist nur ein Funktions- und Wirkungsaspekt, der sie auszeichnet. Ihre Mehrdeutigkeit macht sie zum Gegenstand ästhetischen Handelns. Die gesellschaftliche Funktion des Systems „Musik“ ist dabei mit der individuellen und gruppenspezifischen Funktion musikalischer Praxis verknüpft, die wiederum durch die gesellschaftlich-kulturellen Rahmenbedingungen bestimmt sind. Die soziale Funktion von Musik liegt dabei auf der Hand und darf als Hauptfunktion des gesellschaftlichen Handlungssystems „Musik“ betrachtet werden. Die musikspezifischen Möglichkeiten der Kommunikation sowohl innerhalb einer Gesellschaft als auch zwischen unterschiedlichen Kulturen stehen im Zentrum ihrer Vermittlung.

Überraschend griff kürzlich das Bundesministerium für Finanzen in Berlin diesen kommunikativen Aspekt von Musik für sich auf. Mit der Idee, einen unkonventionellen Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur zu leisten, trat es an das netzwerk junge ohren und an Universal Music GmbH heran mit der Bitte, ein Vermittlungskonzept zu entwickeln, das sowohl Mitarbeiter des Hauses als auch eine interessierte Öffentlichkeit unterschiedlichen Alters ansprechen sollte. Am 3. März 2011 fand diese Veranstaltung in den Räumlichkeiten des Detlef-Rohwedder-Hauses, dem heutigen Sitz des Bundesministeriums für Finanzen (BMF), statt. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble nannte die Veranstaltung einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungsarbeit im Hinblick auf das Gebäude und seine Geschichte. Wie kaum ein anderes als nationalsozialistischer Prestigebau errichtetes Gebäude spiegelt der heutige Sitz des BMF die Brüche der jüngeren deutschen Geschichte wider. Das Veranstaltungsformat, welches das netzwerk junge ohren zusammen mit der Universal Music GmbH für diesen Anlass entwickelte, zog mehrere hundert Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung in ein historisches Gebäude und ließ Künstler wie Daniel Hope,Till Brönner, Coco Schumann, Stephan Braunfels und Marko Paysan ihre eigene Geschichte mit, über und durch Musik erzählen. Mal mit, mal ohne Worte fesselten sie auf ihre Weise ein Publikum, in dem sich sowohl geladene Gäste des Ministeriums als auch Kultur- und Architekturneugierige mischten. Das Wagnis, welches das Ministerium mit dieser Idee einging, wurde mit einem besonderen Abend belohnt, der nicht nur beim Publikum, sondern auch in der Presse durchweg positive Resonanz zeigte – und einen Aspekt von Kulturvermittlung anschaulich werden ließ: ungewöhnliche Begegnungen durch Musik zu stiften.

Das Herangehen an eine solche Aufgabe ist ein Beispiel für das Wirken des netzwerk junge ohren, dessen Ziel es ist, zwischen Musik und Publikum Brücken zu bauen und zwischen Musikbetrieb, Politik und Wirtschaft lose Kopplungen anzuregen. Musikvermittlung definiert sich in diesem Kontext als eine Form der Kommunikation und bietet die Perspektive Musik als eine spezifische Beobachtung von Gesellschaft an. Mit dieser Haltung ist es ein Anliegen des netzwerk junge ohren, auf das Entstehen einer Metakultur aufmerksam zu machen, die auf der Suche nach Formen und Formaten ist, in denen Werte als Werke und Werke als Werte genau deswegen kommuniziert werden, um sowohl eine Erlebnis- als auch eine Gesprächsebene kultivieren zu können, die gegenüber kulturellen Unterschieden gleichermaßen sensibel und indifferent ist.
Das mag am Ende abstrakt klingen, und doch führt es zu Überlegungen, die uns Verständnisfragen heutiger und künftiger kultureller Vielfalt stellen lassen. Wo verorten sich künstlerisch-kulturelle Quellen, aus denen geschöpft wird? Wo verhindern kulturelle Stereotypen eine Entwicklung und wo wirken sie stabilisierend? Fragen, die durchaus eine gesellschaftliche Relevanz haben.
Diesen und weiteren Fragen nach der Qualität von Vermittlung stellen sich gerade zwölf Projekte, die aus ganz Europa von einer international besetzten Jury beobachtet werden. Der internationale Wettbewerb YEAH! Young EARopean Award, initiiert von der Stiftung Stahlwerk Georgsmarienhütte, sucht nach Formen und Formaten, die einen Beitrag für die kulturelle Grenzüberschreitung leisten und das Kulturgut Musik als Quelle von Inspiration für Begegnungen aller Generationen und Nationen lebendig halten. Wenn die Jury, die sich aus Personen mit unterschiedlichen Professionen und Nationalitäten zusammensetzt, über die feinen Unterschiede der Projekte aus zwölf verschiedenen Ländern diskutiert und das Ergebnis dieser Diskussion dann im Herbst im Rahmen des YEAH!-Festivals in Osnabrück sicht- und hörbar wird, ist zu erwarten, dass selbstverständlich aufgefasste kulturelle Vorlieben und Praktiken auf den Prüfstand gestellt werden. Ein Beitrag, der die Diskussion von der praktischen Seite beleben wird und damit die Diskussion um das Thema virulent hält und neue Kommunikationsräume eröffnet. Die Beobachtung, dass Neues durch technischen Fortschritt entsteht, Bekanntes weitergegeben, aber umgestaltet wird, traditionelle Vorstellungen gelockert und neue Konstellationen erprobt werden und assoziatives Denken Gestaltungsmöglichkeiten prägen, zeigt, dass wir in einer neuen Generation angekommen sind, die sich auch in der Musik und ihrer Vermittlung widerspiegelt.

<< * Christoph Becher/Holger Noltze: „Debatte zur Musikvermittlung“, auf: Zeit online, URL: http://www.zeit.de/kultur/musik/2010-11/replik-musikvermittlung-becher? page=1, Stand: 21. April 2011; Frankfurter Allgemeine Zeitung, Verlagsbeilage: „taktvoll – Das Magazin für Ereignisse und Klänge“, Redaktion: Wolfgang Sandner, Erstausgabe: April 2011; Juan Martin Koch: „Wie vermittelt man eigentlich eine Preisverleihung?“, in: neue musikzeitung 12/10 – 1/11, S. 11; Holger Noltze: Die Leichtigkeitslüge – Über Musik, Medien und Komplexität, Hamburg 2010; Hans Christian Schmidt-Banse: „Wider den grimmigen Belustigungs-Furor: Zu einigen Missverständnissen in der Musikvermittlung“, in: neue musikzeitung 3/11, S. 11; Ernst Klaus Schneider/Barbara Stiller/Constanze Wimmer (Hg.): Hörräume öffnen – Spielräume gestalten. Konzerte für Kinder, Bd. 2, Regensburg, erscheint voraussichtlich im Spätsommer 2011; Constanze Wimmer: Exchange – Die Kunst, Musik zu vermitteln, Salzburg 2010. <<