Peter Hawig/Anatol Stefan Riemer

Musiktheater als Gesellschaftssatire

Die Offenbachiaden und ihr Kontext

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Burkhard Muth
erschienen in: das Orchester 03/2019 , Seite 57

Es gehört zu den Ärgernissen der Offenbach-Rezension, dass Offenbachs unterschiedliche Werktypen bis heute immer wieder über
einen Kamm geschoren werden. So hat sich der Offenbach-Kenner Peter Hawig entschlossen, einen opulenten Band über die fälschlicherweise häufig in einen Topf mit der Operette geworfene „Offenbachiade“ (Karl Kraus) zu verfassen.
Anders als Volker Klotz, der alles, was „gegen das ‚Verhockte‘ und Selbstzufriedene, das Gewalttätige, Bornierte und rein Geschäftsmäßige anrennt“ und damit jede gute Operette als Offenbachiade versteht, definiert Hawig die Offenbach’sche Gattung sehr viel genauer. Er beschreibt Wegmarken und Wirkungen des Genres sowie textliche und musikalische Parameter der Offenbachiade. Ihre Machart wird konkret analysiert anhand von 13 Werkmonografien. Hawig stellt die Offenbachiade „in den emanzipatorischen Kontext“ der Folgen der Französischen Revolution: „Vermenschlichung des Mythos, Entkleidung des Autoritären, Durchbrechen von Denkverboten, Infragestellung des Gegebenen.“ Konstitutiv für die Gattung sei der „Begriff der Verkleidung und Maskierung“.
Bei der Stoffauswahl habe sich Offenbach vor allem aus der „Reservatenkammer der Bühnentradition“ bedient. Anhand typischer Werke zeigt Hawig dies präzise auf: Mythologie (Orpheus, Helena), Märchen (Blaubart), Legende (Genoveva), Schauerdrama (Seufzerbrücke) und Räuberoper (Banditen). Wesentlich für die Offenbachiade sei „das Verspielte, […] das Jonglieren mit Zeiten und Räumen, Masken und Artefakten“.
Offenbachs Librettisten (Scribe, Meilhac und Halévy) lieferten ihm respektlose, autoritätskritische Stücke, deren mehrschichtigem Anspielungsreichtum der Komponist kongenial zuarbeite: Parodie, Spiegelung von Mustern und Bausteinen, Klischees, Stereotypen und Vorprägungen kennzeichnen denn auch die doppelzüngig-tänzerische Musik der Offenbachiade, aber auch ein durchsichtiger Orchestersatz, gestützt auf Streicher und solistisch geführte Holzbläser. Es sei „die Satzkunst des 18. Jahrhunderts“, die „nicht von ungefähr an Mozart und Cimarosa“ erinnere. Aber der Autor weiß, dass es neben dem spöttischen, dionysischen auch einen lyrischen Offenbach gibt. Lebensfreude und Lyrik gehören für ihn zu Offenbach wie die Kritik an Politik und Gesellschaft. Was (insbesondere die Wiener) Operette wesentlich von der Offenbachiade unterscheide, sei der „Rückzug ins Kleinkarierte und ‚Lebkuchenherzhafte‘“.
Hawig hat ein konkurrenzloses Lehrbuch über die Offenbachiade vorgelegt. Das zentrale Diktum des Buchs lautet: „Offenbach ist Musikdramatiker.“ Daher spricht sich der Autor entschieden gegen jede Art von musikalischer Reduzierung, aber auch textliche Verhunzung, Bearbeitung und Aktualisierung aus. Das Buch ist sehr klug und sehr informativ, aber es ist auch ein sympathisches Liebesbekenntnis: „Denn Offenbach macht glücklich.“
Dieter David Scholz