Henrike Rost

Musikstammbücher

Erinnerung, Unterhaltung und Kommunikation im Europa des 19. Jahrhunderts

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Böhlau
erschienen in: das Orchester 04/2021 , Seite 60

Sie schließen manche Lücke in Biografien, sind zum Teil wie Kontaktlisten zu lesen oder Quellen schöpferischer Ergebnisse: Musikstammbücher. Ganze Kompositionen sind hier zu finden, manchmal aber auch nur die Anfänge einer berühmten Veröffentlichung. Briefe, Zeichnungen, Widmungen, aber auch gesammelte Blätter oder eine Haarlocke eines Besuchers sind hier versammelt.
Und doch ähnelt kaum eines dem anderen. Ob schlicht oder aufwendig gestaltet, gebunden oder als Lose-Blatt-Sammlung, als repräsentativer Beleg von gezielten Netzwerktätigkeiten oder verspielte Zeitdokumente vom gesellschaftlichen Umgang in Salons und Adelshäusern: Die Musikstammbücher bilden einen wichtigen Teil zur Erfassung des kulturgesellschaftlichen Lebens des 19. Jahrhunderts, wie Henrike Rost akribisch untersucht hat.
Es gab keine festen Regeln, wie die Bücher zu führen waren. Manch ein Besitzer sammelte hier Unterschriften im Stil einer Autogrammsammlung, ein anderer dokumentierte Musiknotate mit enzyklopädischer Genauigkeit und Einordnung, wie etwa der Sekretär des Pariser Conservatoire, Alfred de Beauchesne. Ein weiterer Stammbuchbesitzer sonnte sich im Glanz berühmter Persönlichkeiten beim Herumzeigen persönlicher Widmungen während einer Soirée.
Andererseits hatten diese teils handlichen, teils großformatigen Bücher auch einen ganz praktischen Zweck und dienten der Musizierpraxis. Doch die Musikstammbücher waren und sind noch viel mehr, wie diese Untersuchung offenbart. Wo öffentliches Publizieren unmöglich oder zumindest nicht gesellschaftsfähig war, konnten sie ein Stell-vertretermedium und Katalysator sein: Kreative Frauen, denen damals der Publikationsweg noch verschlossen war, fanden hier eine – wenn auch eingeschränkte –Möglichkeit der privaten Veröffentlichung, auf jeden Fall eine ihre Schaffensprozesse dokumentierende Selbstäußerung, die heute wertvolles Material für die Forschung abgibt. Einige Kompositionen Fanny Hensels fanden auf diese Weise den Weg zur Wahrnehmung in bestimmten Kreisen.
Henrike Rost analysiert verschiedene Formen und Erscheinungsbilder von Musikstammbüchern des 19. Jahrhunderts mit unterschiedlicher Ausfertigung und Zielsetzung in vergleichender Diskussion, hinterfragt aber auch Vorgehensweisen. So sei nicht auszuschließen, dass einige der Bücher, die als eine Art kulturelles Reisetagebuch zu lesen sind, manche Tour zu einem Eintragenden allein zurückgelegt haben. Sie wurden zum Teil einfach verschickt. Es gibt aber auch Exemplare, die von der großen Mobilität ihrer Eigner Kunde tun: echte Wegbegleiter in den Kutschen durch Europa.
Nach eingehender Betrachtung der Musikstammbücher der Familie Moscheles, der die Autorin eine Systematisierung der Einträge in tabellarischer Form hinzufügt, gibt es im hinteren Buchteil eine bunte Sammlung von Abbildungen, die die Ästhetik und die Hochwertigkeit der Ausführungen der Einträge erfahrbar machen.
Sabine Kreter