Kalisch, Volker (Hg.)
Musiksoziologie
Im Juli hat das Fachmagazin Nature einen Forschungsbericht des Massachusetts Institute of Technology (MIT) veröffentlicht, wonach empirisch nachgewiesen worden sei, dass das Behagen am Gleichklang in der Musik ein Produkt westlicher Kultur ist. Menschliche Reaktionen auf Konsonanz und Dissonanz sind folglich nicht an-
geboren, sondern werden erlernt. Diese grundlegende Prägekraft der Kultur war von den meisten Forschern bisher bestritten worden.
Die neuen Erkenntnisse stützen und rechtfertigen einmal mehr eine breite musiksoziologische Forschung. Und hier kann das vorliegende Kompendium, das in der Reihe Kompendien Musik im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Musikforschung herausgegeben wurde, helfen, sich umfassend zu orientieren. Es versteht sich als ein Buch zum Lernen und zum Nachschlagen. In drei Schwerpunkten mit insgesamt 23 Aufsätzen und einer Einführung des Herausgebers wird erörtert, was Musiksoziologie eigentlich ist und was sie thematisch erschließt.
Das zu klären ist auch nötig, denn die Anerkennung als eigener Forschungszweig ist umstritten. Oder sie gilt als jeweils individueller Beitrag zweier einflussreicher Soziologen: Max Weber und Theodor W. Adorno. Entlang der beiden in der deutschen Soziologie oft unversöhnlichen Richtungen: der empirischen (Weber) und der philosophischen (Adorno). Schließlich gilt angesichts der gegenwärtig boomenden Kulturwissenschaften, was Karl Jaspers schon 1958 angemerkt hat: Das meiste, was unter dem Namen Soziologie geht, ist Schwindel.
An dem will sich das vorliegende Buch natürlich nicht beteiligen und entsprechend groß sind die Anstrengungen einer sauberen Orts- und Methodenbestimmung der Disziplin Musiksoziologie. Allein vier Artikel erörtern Methodenfragen, zwei weitere Texte wissenschaftstheoretische Konzepte. Diese sechs Beiträge rahmen ein, was unter dem Rubrum Musiksoziologische Arbeitsfelder versammelt ist: Musik und Rituale, Musik und Geld, Musik als Herrschaftsform, als Unterhaltung, als Medium und als Kommunikation. Außerdem werden Institutionen in musiksoziologischer Perspektive durch die Jahrhunderte betrachtet: Hof, Kirche, Stadt, Moderne, Postmoderne, Musikindustrie, Musikerprofile und Musik im Alltag: überall und jederzeit.
Die Musiksoziologie ist entweder mehr Soziologie oder mehr Musikwissenschaft. Kein Wunder, denn Forscher, die von beidem gleich viel verstehen, sind selten. Das vorliegende Kompendium verfolgt ein klares Ziel: Es will Nicht-Soziologen den soziologischen Diskurs zugänglich machen, Vorurteile über musiksoziologisches Denken abbauen helfen und den Beweis erbringen, dass musiksoziologische Besinnung (sic!) unverzichtbar zur auf Vollständigkeit gerichteten Musikwissenschaft gehört.
Fazit nach der Lektüre: Den Soziologen macht sie vermutlich weniger glücklich als den Nicht-Soziologen oder den Musikwissenschaftler. Alle aber können eine Menge aus den guten methodologischen Texten lernen.
Kirsten Lindenau