Anders, Günther
Musikphilosophische Schriften
Texte und Dokumente
Geformt worden bin ich in meiner Jugend ausschließlich durch Musik und bildende Kunst. Die ich beide auch aktiv betrieben habe. Berühmt wurde der Autor dieser Zeilen aber weder als Musiker noch als Künstler, sondern mit technik- und medienkritischen Schriften, die er nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte. Die wichtigste unter ihnen trägt den Titel Die Antiquiertheit des Menschen. Darin kritisiert Günther Anders, der eigentlich Günther Stern hieß, die Technikgläubigkeit des modernen Menschen und seine Bereitschaft, sich Maschinen, Medien und Apparaten zu unterwerfen. Andere Veröffentlichungen, die vor der Nutzung der Kernenergie warnen, trugen ihm den Titel Atomphilosoph ein.
Trotzdem blieb Anders der Musik zeit seines Lebens verbunden. Mehr noch seine Laufbahn als Philosoph hat er auf dem Feld der Musik mit musikphänomenologischen Texten begonnen. Diese unbekannte Seite des Philosophen beleuchtet jetzt ein Band, der Anders Texte zur Musik versammelt, die (mit einer Ausnahme) in den 1920er und 1930er Jahren entstanden sind. Darin finden sich zum einen eine Spezialuntersuchung zu musikphänomenologischen Fragestellungen, zum anderen eine Vielzahl von Essays, die ein breites Themenspektrum abdecken, darunter Das Hören impressionistischer Musik, Unsere Musik, wie ein Inder sie hört, Porträts von Busoni, Schönberg und Dilthey oder Problemformulierungen zu einer Musiksoziologie sowie die Pariser Musikbriefe. Die für Anders typische medienkritische Haltung spricht aus dem Text Spuk und Radio. Eine über Radio ausgestrahlte Musikdarbietung führt zu vielfachen, simultanen Aufführungen, die sich gegenseitig Lügen strafen. Für Anders ein beinah surrealistischer Spuk.
Die jugendliche Begeisterung für Musik Anders spielte Klavier und Geige mündete vor dem Hintergrund eines Philosophiestudiums bei Edmund Husserl in die 1930/31 verfassten Philosophischen Untersuchungen über musikalische Situationen, die Anders als Habilitationsschrift an der Frankfurter Universität einreichen wollte. Diese musikphänomenologische Arbeit bildet den umfangreichsten Text in der vorliegenden Veröffentlichung. In ihr untersucht Anders, vereinfachend gesagt, das komplexe Verhältnis zwischen Hörer und Musik.
Im aufschlussreichen Nachwort ordnet Reinhard Ellensohn die Texte zeitgeschichtlich ein. Man erfährt, dass Anders alias Stern als aktives Mitglieder im Freiburger Collegium musicum von Willibald Gurlitt die Wiedererweckungsbemühungen mittelalterlicher Musik verfolgte. Außerdem interessierten ihn die Forschungen zur Tonpsychologie von Carl Stumpf und zur Mikroharmonik von Heinz Werner. Schließlich beleuchtet Ellensohn auch Anders Frankfurter Gastspiel, mit dem die Bemühungen gemeint sind, sich an der dortigen Universität zu habilitieren. Wie und warum dieser Plan scheiterte und welche Rolle Theodor W. Adorno und Paul Tillich dabei spielten, ergibt ein spannendes Kapitel deutscher Universitätsgeschichte.
Mathias Nofze


