Arnold Werner-Jensen

Musiknation Deutschland?

Ein Plädoyer für die Zukunft unserer Orchester

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Henschel
erschienen in: das Orchester 05/2020 , Seite 63

Dass dieses kleine, handliche Buch im Titel ein Fragezeichen trägt, kann ja eigentlich nur erwarten lassen, dass der Autor Arnold Werner-Jensen Fragen hat. Doch unbeirrbar und ohne sich mit möglichen Zweifeln auseinanderzusetzen, steht für ihn fest, dass Deutschland eine (eigentlich meint er: die) Musiknation ist, und zwar dank seiner Orchesterlandschaft: „Die Orchesterkultur definiert Deutschland als Musiknation.“ Dabei gäbe es ja schon Gründe, darüber nachzudenken, ob es wirklich nur die Orchester sind, die diesen Ruf begründen könnten.
Mit dem Autor ist der Stolz zu teilen, dass die Musiklandschaft Deutschlands – präziser: die „deutsche Orchester- und Theaterlandschaft“ – auf der begehrten deutschen Liste „immateriellen Kulturerbes“ steht und durchaus Potenzial hat, in die Internationale Kulturerbeliste aufgenommen zu werden.
Doch ist die Aufnahme keine repräsentative Ordensverleihung, sondern auch eine Herausforderung und Verpflichtung für die Herkunftsnation. Oft ist dieser Schritt der letzte Versuch, etwas Gefährdetes zu retten, aber auch etwas weiterzuentwickeln: „Lebendige Traditionen entstehen als kreative Neuschöpfung durch ihre Trägerschaft, werden von Generation zu Generation weitergegeben und fortgeführt. Immaterielles Kulturerbe ist immer auch durch Improvisation, Variation und Veränderung gekennzeichnet, insbesondere durch kreative Anwendung und innovative Veränderung durch jüngere Generationen.“ (www.unesco.de/kultur-und-natur/ immaterielles-kulturerbe).
Wenn das Fragezeichen im Titel etwas Perspektivisch-Herausforderndes erwarten lässt, so ist dies die große Enttäuschung des Buchs. Es ist eine fleißige Materialsammlung zur Orchesterlandschaft mit kleinen regionalen und historischen Vertiefungen, sich an den jeweiligen Dirigenten und den Orchesterplanstellen entlanghangelnd, den Abbau auf heute 129 „Kulturorchester“ (1992: 168) bedauernd – aber eigentlich ist die Welt schon in Ordnung. Die Zusammenstellung von Fakten ergibt gutes Material für einen Leistungskurs Musik. Die inhaltlich mageren Ausführungen zu Ausbildung und Publikumsentwicklung gehen nicht über den inzwischen auch im kleinen Städtebundtheater erreichten Standard hinaus, wobei Überlegungen zu Sinn und Zweck von Abstufungen zwischen Provinz und Metropole durchaus interessant sind.
Doch kein Gedanke wird darauf verschwendet, dass die aktuelle Neue Musik zunehmend auch andere Qualifikationen und Ensembleformationen erfordert; Gruppierungen wie z.B. das Ensemble Modern werden nicht touchiert, geschweige denn Experimente wie das Berliner Stegreif-Orchester. Damit bleibt nicht nur die Avantgarde, sondern auch Veränderungen im Selbstverständnis der Orchestermusiker, Dirigenten und Komponisten, also die Triebkräfte der Innovation, unerwähnt.
Eine wichtige Bedingung für die Aufnahme in die Kulturerbeliste bleibt damit bei Werner-Jensen außen vor, die sich heute jedoch allen Musikensembles stellt: die Lust zur innovativen Veränderung und damit Voraussetzung, Musiknation zu bleiben. <
Dorothea Kolland