Frédéric Döhl

Musikgeschichte ohne Markennamen

Soziologie und Ästhetik des Klavierquintetts

Rubrik: Bücher
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erschienen in: das Orchester 05/2020 , Seite 64

Die Zauberflöte, Hänsel und Gretel, Tosca und La Traviata waren die vier am häufigsten aufgeführten Opern in Deutschland in der Saison 2017/18. Die fünfte und neunte Symphonie von Beethoven oder Schuberts Unvollendete dürften in der Sparte Sinfonik die Platzhirsche sein. Auch in den übrigen Gattungen dominiert ein mehr oder weniger unveränderliches Kernrepertoire das Konzertleben. Frédéric Döhl, Strategiereferent für Digital Humanities an der Deutschen Nationalbibliothek und Musikwissenschafts-Dozent an den Universitäten Dortmund und Berlin, nennt diese Kanonbildung eine „an Markennamen orientierte Musikgeschichte“. Und hat sich auf die Suche nach einer Alternative gemacht.
Er tut dies am Beispiel des Klavierquintetts. Döhl zufolge ist im Fall des Klavierquintetts der Spalt zwischen der Menge an verfügbarem Material – rund 1000 Werke sind wissenschaftlich erfasst – und dem, was es davon in die öffentliche Wahrnehmung schafft, besonders breit: „Besprochen, ediert, aufgenommen, aufgeführt, ja wahrgenommen sieht man in den Leitmedien Klassischer Musik nur Franz Schuberts ,Forellenquintett‘ (das schon seiner Besetzung mit Kontrabass wegen noch gar nicht recht zur Gattung gehört), Robert Schumanns op. 44 in Es-Dur, Johannes Brahms’ op. 34 in f-moll, Antonín Dvořáks op. 81 in A-Dur und schließlich Dmitri Schostakowitschs op. 57 in g-moll.“ Das sind die „Big Five“ der Gattung Klavierquintett, deren Vorrangstellung Döhl in vier Sektoren des Musikwesens anhand von ausgedehnten Stichproben untersucht hat: Tonträgermarkt, Konzertwesen, Musikliteratur und Musikjournalismus. Dabei ist die Fülle unbekannter Klavierquintette gerade dank digitaler Medien relativ leicht aufzuspüren. Anhand dieses Befunds stellt Döhl die Frage, die man an jeden Kanon richten kann: Ist er ein Ausweis von Qualität? Im Fall des Klavierquintetts jedenfalls scheint für ihn „das Missverhältnis zwischen Qualität und Aufmerksamkeit […] geradezu eklatant“.
Als Ausweg aus diesem Dilemma bietet sich für den Autor eine „persönlich kuratierte“ Musikgeschichte an, die sich nicht am Mainstream orientiert, sich aber auch weder der algorithmischen Logik von Zufallslisten noch den scheinbar objektiven Verfahren des „Data mining“ der Digital Humanities überlassen will. Döhls Auswahlkriterium ist der „emotional impact“, eine Kategorie, die der amerikanische Kant-Spezialist Paul Guyer entwickelt hat. Mit sehr differenzierten, wohltuend abwägenden Überlegungen gelangt Döhl zu einer Art Ästhetik „schöner Stellen“, die unter anderem auch Gedanken über das „Sprechen über Musik“ enthält.
67 „schöne Stellen“ aus Klavierquintetten, sein persönliches „Mixtape“, stellt Döhl am Schluss des Buches vor. Man lernt Komponisten wie Georgy Catoire, Giovanni Sgambati oder Jean Huré kennen. Nie gehört? Dann wird es Zeit. Döhls Buch wird jeder mit Gewinn lesen, der über Musik im Zeitalter ihrer virtuellen Omnipräsenz vertieft nachdenken will. <
Mathias Nofze