Stefan Weiss

Musikgeschichte – Moderne und Postmoderne

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel
erschienen in: das Orchester 04/2024 , Seite 67

Welche Datengrenzen die Moderne in Relation zur Romantik als Vorgänger- und als Folgeepoche die Postmoderne haben, ist nicht eindeutig bestimmbar. Zwar ist das 20. und nun begonnene 21. Jahrhundert retrospektiv ein Zeitrahmen, aber kein qualitativ einheitliches Spekt-rum. Eher, so Stefan Weiss in seiner Monografie, sei die Anerkennung des Disparaten konsensfähig, um die Mannigfaltigkeit der Musikphänomene zu beschreiben und zu analysieren. Wobei er gewisse Kontinuitäten wie die Fortsetzung der Zwölftontechnik von Arnold Schönberg in der Seriellen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus im Spektralismus erkennt. Auf anderer Ebene mutieren die rational-vertikalen Dissonanzen des Minimalismus von Anton Webern (Fünf Sätze für Streichquartett) bei Philip Glass horizontal zur sinnlich-raffinierten Music in Fifths, ist der Song Idioteque der britischen Rockband Radiohead eine interpolierte Reaktion auf die akademische Komposition mild und leise von Paul Lansky und Birth of the Cool mit Miles Davis als Premiere des so genannten „Third Stream“ im Jazz hat die gleichen symphonischen Ambitionen wie etwa der Neoklassizismus von Igor Strawinsky.
Gerade durch Inklusionen von Jazz sowie Rock und Pop unterscheidet sich diese konzise Historie von konventionellen Darstellungen. Indem Stefan Weiss, mit Expertisen zu allen genannten Gebieten, solche Parallelen und auch Konkurrenzen, etwa bei den Publikumsresonanzen (Avantgarde- versus Populär-Stile), aufzeigt, werden abschottende Klassifikationen (E- versus U-Musik) suspekt, ja absurd. Exemplarische Werkanalysen heben Prototypen einzelner Sektionen wie Il canto sospeso von Luigi Nono für Experimente, Kind Of Blue von Miles Davis für modalen Jazz, Revolver von den Beatles für Rockmusik und Six Pianos von Steve Reich für Minimalismus im Kapitel „Zenit der Moderne“ hervor. Diese montierende Methode entlastet den sonst strikten Diskurs durch Abwechslung und weitet zugleich den Radius zur Totale des musikhistorischen Prozesses. Deshalb leuchtet durchaus ein, dass die Postmoderne keine Negation der Moderne, sondern „deren Korrektur“ ist und zugleich eine radikale Partikularisierung der meisten Neben- und Unter-Strömungen gefördert hat wie auch deren potenzielle Überlagerungen in jedem Bereich. So berücksichtigt Stefan Weiss die jeweiligen Spezifika einzelner Genres in konzisen Charakteristika. Nur am Rande bemerkt er, wie etwa faschistische Kulturpolitik die daheim gebliebenen und emigrierten Komponisten beeinflusste und Musik im Exil-Widerstand prägte. Als ebenso kompetenter wie kompakter Konspekt zum Thema „Musikgeschichte der Moderne und Postmoderne“ kann das auch für Non-Experten gut lesbare Buch von Stefan Weiss nur nachdrücklich empfohlen werden.
Hans-Dieter Grünefeld