Riva, Nepomuk (Hg.)

Musikalisches Handwerk

Untersuchungen zu Dirigierstilen bei der Lucerne Festival Academy

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Electronic Publishing epOs, Osnabrück 2015
erschienen in: das Orchester 01/2017 , Seite 58

Reicht eine Analyse von Dirigierbewegungen zweier Jungstudenten auf 54 Textseiten aus, um die Aufführung von Arnold Schönbergs Erwartung hinreichend zu gewährleisten? Wohl eher nicht, wie Herausgeber Nepomuk Riva auf der letzten Seite seines Büchleins zugibt. Dennoch sind die Einzelana-
lysen zunächst nicht uninteressant zu lesen.
Nach eingehenden Beschreibungen der Videomitschnitte der Probenarbeit erfolgt die Auswertung durch ein Tracking-Programm, das die Schlagfiguren zeitlich misst, grafisch darstellt und sich so mit den Videofilmen korrelieren lässt. Die Schlussfolgerungen sind indes eher mager, weil sie eher faktisch-beschreibend und nur selten auswertend-helfend sind. Und am Schluss geben die Co-Autoren selbst zu, dass die „Schlagfiguren nur eine bedingte Aussagekraft besitzen, da sie aus einem Winkel von 45 Grad aufgenommen wurden“.
Genau das offenbart ein Blick in die per Link angegebenen Videodokumente: Da erblickt man mit statischem Kamerabild abgelichtete Dirigenten, deren Gesichter wohl aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes unkenntlich gemacht sind, ein paar eher gequält wirkende Zuschauer sowie ein bemüht agierendes Instrumentalensemble. Vor diesem sitzt Pierre Boulez, der weder die Dirigenten noch das Orchester anschaut, sondern eher teilnahmslos in seiner Partitur hin und her blättert. Das alles wirkt etwas bizarr; freudloser kann Musizieren kaum gehen. Warum dann ausgerechnet eine „Analyse von Feldforschungsmaterial zur Taktstabhaltung und Taktstabbewegung“ an Hand von Charles Ives’ 4. Sinfonie angefügt wird, bleibt schleierhaft. Denn Boulez selbst hat nie mit Stab dirigiert, konnte sogar Mahler-Sinfonien souverän mit stockfreien Gesten interpretieren. Dabei erscheint die Analyse von Fynn Liess absolut seriös und könnte zukünftigen Orchesterdirigenten zumindest den technischen Hintergrund ihrer stockgebundenen Schlagarbeit
ausleuchten.
Herausgeber Nepomuk Riva beschließt das Buch mit „Untersuchungen zum Doppeldirigat in Ives’ 4. Symphonie“. Hier erfährt man erstmals etwas über Probenstrategien, die jenseits des reinen Taktschlagens liegen. Kursleiter Peter Eötvös spannte bei der Probenarbeit mit jungen Dirigenten den Bogen wohl weiter – unterbrach, diskutierte und spornte zur Kommunikation mit den Orchestermusikern an.
Bei der Auswertung war das Tracking-Programm hierbei schon eher hilfreich: Es konnte anhand der Grafiken der Handbewegungen der Doppeldirigenten nachweisen, wo Verzögerungen oder Übereinstimmungen mit Auswirkungen auf die Präzision des Zusammenspiels beider Orchester vorlagen.
Wer das Buch kauft, muss viel Geduld aufbringen, um die detailreichen Beschreibungen der Dirigierbewegungen junger Leute zu verdauen. Ob er danach mit den Grafiken und den Fazits der einzelnen Dokumentationen im Dirigieren weiterkommt? Diese Frage bleibt wohl eher unbeantwortet.
Thomas Krämer