Wörner, Roland

Musikalischer Brückenbauer ins Überirdische. Karl Richter

Eine Wirkungsgeschichte

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Edition Baptisma, Heilbronn
erschienen in: das Orchester 04/2017 , Seite 60

Als Leser dieses Buchs bereut man, so oft nicht dabei gewesen zu sein: bei Karl Richters Bach-Aufführungen. Die Befürchtung, dass Autor Roland Wörner aufgrund seiner lebenslangen Bach- und Barock-Begeisterung und speziell seiner über zwei Jahrzehnte langen Beschäftigung mit Karl Richter in hingerissenem Tunnelblick rund 800 Seiten Hagiografie veröffentlicht, verflüchtigt sich schnell. Der mit 630 Seiten gewichtigste Teil des Bandes umreißt nur in den zwei einleitenden Kapiteln Richters Herkunft, Ausbildung und Anfänge in Wörners Darstellung.
Mit Richters erstem großen Konzert in der Münchner Markuskirche Ende November 1951 tritt der Autor zurück: Nach genauen Angaben zu Ort, Zeit, Ausführenden, Programm, eventuell Aufnahmeort und Produzenten folgen drucktechnisch abgesetzte Kritiken mit präzisen Quellenangaben im Anhang, meist nur umrahmt von wenigen erläuternden Sätzen.
Lediglich bei größeren Veränderungen greift Wörner wieder zur Darstellung, etwa der Umwandlung des Münchner Schütz- in Bach-Chor 1954, der Entstehung und Entwicklung der Ansbacher Bachwochen von 1954 an bis zum strit-
tigen Ende von Richters Tätigkeit dort, den – oft historisch geradezu amüsanten – Auslandsreisen ab 1956. So sind auch die erstaunliche Entwicklung der Wagner- und Strauss-Stadt München zu einem Zentrum der Bach-Interpretation und Richters Einstufung als „Karl der Große“ in den 1960er Jahren keine Lobhudelei des Biografen, sondern durchweg aus anderen Quellen belegt.
Richters breite Aufnahmetätigkeit für die Deutsche Grammophon, gipfelnd in den großen Einspielungen für die Archiv Produktion, Richters Repertoireerweiterung zu geistlichen Werken von Händel über Beethoven und Mendelssohn zu Dvorák, sein Münchner Staatsopernauftritt mit Glucks Iphigenie auf Tauris 1979 – all das wird als Kometenflug eines publicity-scheuen, ernsthaften, großen Künstlers minutiös verfolgbar – und löst aufgrund der begeisterten Kritiken eben das obige Bedauern aus. Die körperliche Überforderung, gekoppelt an eine familiäre Veranlagung zu Herzproblemen und die Augenerkrankung mit der Gefahr der Erblindung führten nach zwei Infarkten zu Richters frühem Herztod am 15. Februar 1981, 54-jährig.
Der Anhang enthält nicht nur die offizielle Diskografie, sondern führt auch alle von Richter je gespielten Werke auf und belegt durch Unterstreichung, wovon ein Tondokument vorliegt. In dieser Hinsicht eine beispielhaft genaue Biografie.
Als einzig diskutable „Grenze“ von Wörners Arbeit wird seine eindeutige Positionierung gegen die historisierende und Originalklang-Bewegung deutlich: pro Richter, kontra „Gardiner bis Harnoncourt“. Doch dieser Streit ist entschieden – und Wörner zeigt Karl Richter als grandios leuchtenden „Fels in der Brandung“.
Wolf-Dieter Peter