Eva-Maria Houben

Musikalische Praxis als Lebensform

Sinnfindung und Wirklichkeitserfahrungen beim Musizieren

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Transcript
erschienen in: das Orchester 12/2018 , Seite 62

Was tun Menschen, wenn sie Musik machen? Wie wirkt das Musizieren in ihr Leben hinein? Verändert es ihr Leben, und wenn ja, wie? Welche Beziehungen zur Lebenswirklichkeit sind in Musikwerken und in den mit ihr verbundenen Praxen angelegt? Mit solchen weitreichenden Fragen beschäftigt sich Eva-Maria Houben in ihrem Buch. Es sind Fragen, die jeden ernsthaft Musizierenden betreffen. Houbens Intention ist nicht etwa darauf gerichtet, „Transfereffekte“ der Beschäftigung mit Musik auf „außermusikalische“ Tätigkeiten nachzuweisen. Vielmehr will sie zeigen, dass die Grenzen zwischen musikalischer Praxis und der Lebenswirklichkeit musikalisch aktiver Menschen fließend und durchlässig sind. „Wir können die in musikalischer Praxis gemachten Erfahrungen ins Leben hineintragen, können, umgekehrt, von in musikalischer Praxis gemachten Erfahrungen so berührt werden, dass das Leben widerhallt. Wo ist die Schwelle zwischen Musik und Alltagsleben?“
Anregungen und theoretische Fundierungen gewinnt Houben aus diversen musikwissenschaftlichen, -ästhetischen und -soziologischen Konzepten. Als besonders ergiebig erweisen sich Schriften von Alfred Schütz, Simone Mahrenholz, Erika Fischer-Lichte, nicht zuletzt auch Veröffentlichungen englischsprachiger, hierzulande vergleichsweise we­nig rezipierter Autoren wie John Blacking, Christopher Small, Lawrence Kramer und Nicholas Cook, die sich mit musikbezogenen Lebensvollzügen und der Bedeutung musikalischer Performativität beschäftigen. Theoretische Ausführungen wechseln ab mit Besprechungen von Musikstücken. Deren Spannweite ist groß: Ein Schwerpunkt liegt auf Werken neuer Musik, aber auch Froberger, Bach, Beethoven, Mozart, Schubert, Schumann, Debussy, Webern und andere kommen zur Sprache. Immer geht es primär um die Frage, welche spezifischen Lebenserfahrungen die Ausführung der betreffenden Werke ermöglicht.
Houbens Diktion ist mehr behutsam tastend, fragend, erwägend als streng diskursiv. Das ist sympathisch und fordert Lesende zu der Bemühung auf, den Fragen persönlich nachzuspüren. Allerdings ist mit dieser Offenheit auch die Gefahr des Vagen, schwer Greifbaren verbunden. Mehrfach wird Helmut Lachenmanns Aussage über den Sinn von Musik bemüht, dass sie nämlich „über die eigene Struktur hinausweist auf Strukturen, Zusammenhänge, das heißt: auf Wirklichkeiten und Möglichkeiten um uns und in uns selbst“, wie auch seine Auffassung, dass Kunst heute ihr Potenzial darin habe, „den Menschen an sich zu erinnern, an Kräfte in ihm, die ungenutzt sind, während er verschlissen wird“. Was das freilich konkret meint, bleibt weitgehend diffus. Kein Wunder: Die Lebensbedeutung der Ausführung von Musik lässt sich schwerlich generalisierend erfassen. Denn sie ist, wie Houben erkennt, abhängig „von der Entscheidung des einzelnen Musikers“: „Will ich mich als Spieler so weit ins Spiel hineinbegeben, dass ich die Ausstrahlung der einen Welt (der Musizier- und Spielwelt) auf die andere gestatte, ja mehr noch, heraufbeschwöre?“
Ulrich Mahlert

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