Lars-Erik Gerth

Darmstadt: Musikalische Eruptionen sicher kanalisiert

Nach langer Corona-Pause kann das Staatsorchester Darmstadt wieder mit mitreißenden Wagner- und Mahler-Aufführungen begeistern

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 10/22 , Seite 49

Mit überzeugenden Neuproduktionen von Verdis Maskenball und Dvořáks Rusalka war Daniel Cohen in der Saison 2018/19 in seine Amtszeit als Darmstädter Generalmusikdirektor gestartet. Bekanntlich brachte dann aber im März 2020 die Corona-Pandemie den Spielbetrieb für mehrere Monate komplett zum Erliegen. Dem fiel auch die für Mai 2020 mit Spannung erwartete Lohengrin-Neuproduktion zum Opfer. Es sollten noch gut zwei Jahre vergehen, ehe Cohens erste Wagner-Premiere über die Bühne gehen konnte. Bereits in deren Vorfeld hatte sich der aus Israel stammende Dirigent zu dem äußerst problematischen Verhältnis vieler Juden zu Wagner geäußert, der aufgrund seiner antisemitischen Äußerungen und Schriften in Cohens Heimat noch heute mit einem Aufführungstabu belegt ist. So sei er, so Cohen, komplett ohne Wagners Musik aufgewachsen und habe diese erst mit 16 Jahren kennengelernt, als ihm ein Freund heimlich Carlos Kleibers Tristan-Aufnahme zukommen ließ. Durch diese habe sich ihm „eine neue musikalische Welt eröffnet“. Im West-Eastern Divan Orchestra, dem er als Violinist angehörte, habe man intensiv darüber diskutiert, ob das Orchester Wagners Musik öffentlich aufführen sollte oder nicht. Mit Daniel Barenboim sprachen die jungen Musikerinnen und Musiker damals stundenlang über Wagner, seine Musik, seine Biografie und seinen Antisemitismus. Schließlich führten sie dann doch Ausschnitte aus Tristan und Walküre auf.
Dass sich Daniel Cohen eingehend mit Wagner beschäftigt hat, war seiner Lohengrin-Interpretation nun deutlich anzumerken. Zugleich machte die Mitte Juni besuchte Vorstellung klar, dass die Einschränkungen der Pandemie das gute Verhältnis zwischen GMD und Staatsorchester nicht beeinträchtigt haben. So zeichnete sich die musikalische Umsetzung durch ein transparentes Klangbild und eine differenzierte Wiedergabe aus. Cohen gelang es, selbst die größten musikalischen Eruptionen sicher zu kanalisieren. Aus dem nicht durchweg homogenen Ensemble stachen Katrin Gerstenberger und Johannes Schwärsky als Ortrud und Telramund sowohl vokal als auch darstellerisch deutlich heraus. Dem – der originären Handlung nach – bösen Intrigantenpaar verlieh Regisseurin Andrea Moses überraschend positive Züge, durchschaut es doch den als Strahlemann daherkommenden Schwanenritter. Dieser tritt bei Moses als moderner Berufspolitiker durchgestylt und aalglatt auf und ist keineswegs der sonst übliche Sympathieträger, sondern ein selbstverliebter Gockel. Mit seiner eher lyrischen und nicht sehr facettenreichen Stimme hatte Peter Sonn hörbare Mühe, den Anforderungen der Partie gerecht zu werden, während er szenisch die Ideen Moses’ überzeugend umsetzte. Vokal gediegen gerieten die Elsa von Dorothea Herbert und der offensichtlich mit Lohengrin paktierende König von Johannes Seokhoon Moon.
Der Wegfall aller Corona-Einschränkungen begünstigte auch das letzte Sinfoniekonzert der Saison, das sowohl mit einer Uraufführung als auch mit einer großen Mahler-Sinfonie aufwartete. Als Auftragswerk für das Staatstheater hat der israelische Komponist Tzvi Avni – 1927 in Saarbrücken geboren – sein Klarinettenkonzert geschrieben. Gewidmet hat er es Sharon Kam, der Solistin der Uraufführung, und Daniel Cohen. Diese boten dann auch gemeinsam mit dem Darmstädter Staatsorchester eine überzeugende und stringente Umsetzung des sehr abwechslungsreichen und durchweg tonalen Werks. Der erste Satz kam sehr rhythmisch daher, während es im Mittelsatz meditativ wurde. Der tänzerische Aspekt brach sich dann im Finalsatz Bahn, in dem Anklänge an Klezmermusik nicht zu überhören waren. Sharon Kam beeindruckte nicht nur durch sicher gesetzte Triller und Läufe, sondern vor allem durch ihr geschmeidiges und feinsinniges Klarinettenspiel, das sich ideal mit dem warm timbrierten Orchesterklang paarte.
Perfekt passte im Anschluss die elegische und gefühlvolle Rhapsodie für Klarinette und Orchester von Claude Debussy zu Avnis neuer Kompo­sition. Auch hier erwiesen sich Kam, Cohen und das Staatsorchester als die idealen Interpret:innen, welche die Feinheiten der Partitur heraus­arbeiteten. Bestechend dabei erneut die hohe Virtuosität im Klarinettenspiel von Kam, die das begeisterte Publikum nicht ohne Zugabe von der Bühne ließ. Gemeinsam mit einem der Kontrabassisten intonierte sie sehr umschmeichelnd Gershwins Summertime.
Ein wichtiger Pfeiler der sinfonischen Konzerte des Staatstheaters sind seit Jahrzehnten die Werke Gustav Mahlers, die Orchestern und Dirigenten bekanntlich stets viel abverlangen. Nach der gelungenen Premiere mit Wagner kann Daniel Cohen nun auch bei seiner „Feuertaufe“ mit Mahlers fünfter Sinfonie ein gutes Zeugnis ausgestellt werden. Der GMD bot mit dem bestens disponierten Orchester eine organische, aus der Musik heraus entwickelte Wiedergabe. Gleichwohl spannungsvoll und differenziert erklang der Fünfsätzer. Und wiederum gelang es Cohen, selbst die expressivsten Momente sicher zu kanalisieren und dabei die Dynamik in der Balance zu halten. So überzogen es die Darmstädter Musiker:innen auch im Finale furioso nicht mit der Lautstärke und blieb das Klangbild stets transparent. Auch bewies der Saisonabschluss, dass das Staatsorchester über hervorragende Solistinnen und Solisten verfügt. Stellvertretend seien nur Solotrompeter und Solohornist genannt, die ihre zahlreichen heiklen Einsätze und Passagen ungemein sicher intonierten. Das entfachte bereits Vorfreude auf die Aufführung von Mahlers „Auferstehungssinfonie“ zum Ende der kommenden Saison. Zuvor stehen aber noch interessante Neuproduktionen wie Don Giovanni, Lulu, Eugen Onegin und La Traviata auf dem Spielplan.