Kadja Grönke/Michael Zywietz (Hg.)
Musik und Homosexualitäten
Tagungsberichte Bremen 2017 und 2018
Das mit Fadenbindung ansprechend gestaltete Paperback bündelt die Beiträge der Veranstaltungen „Stand und Perspektiven musikwissenschaftlicher Homosexualitätenforschung“ (2017) und „Homosexualitäten und Manierismus“ (2018) an der Hochschule für Künste Bremen. Ein ganz weites Feld.
Hans-Joachim Hinrichsens Anmerkungen zur Steblin-Solomon-Debatte über Franz Schubert sind paradigmatisch für die Fragilität von Forschungen über den Einfluss sexueller Identitäten und Neigungen auf Musik, deren Erleben und Verständnis. Das bestätigt sich in spannenden Seitenaspekten wie in Wolfram Boders Aufsatz über „Die Erste Sinfonie des Spohr-Schülers Hugo Staehle“. Kevin Clark plädiert für die wesentliche Bedingtheiten freilegende Fokussierung auf „Homosexualität als Thema der Operettenforschung“, da viele Protagonist:innen dieser Kunstform mit Witz und Ernst eindeutig-zweideutige Masken des Begehrens inszenierten und so performative Akteure in latenten und offenen Diskursen wurden.
Kadja Grönke hört und analysiert Henze und Reimann nach der Prämisse von Roland Barthes. Dieser beschrieb die Bedeutung der Körperlichkeit von Interpret:innen, vor allem deren Stimmen, für das Erleben von Musik. Der abschließende Teil erweitert den Fokus um außermusikalische Themen wie Dieter Ingenschays „Manierismus und Neu-Barock in der lateinamerikanischen Schwulenliteratur“. Durch die von Judith Butler angestoßenen Diskurse über Pluralis-mus und Performationen des Geschlechtlichen wurde die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit „queerer“ Praxis und ihrer Rezeption nicht einfacher. Das Erkennen textueller bzw. tönender Codes als homosexuelle Signale vergangener Epochen bleibt aufgrund möglicher Missverständnisse unsicher. Methodisch fundierte Approximative führen nicht immer zu Gewissheiten.
Wichtig sind dennoch fast alle Fragestellungen des Bands bis zur korrekten Erwähnung der sexuellen Identität von Musiker:innen in Lexikonartikeln mit dem Ziel einer Sichtbarmachung von Musikinhalten und deren Anlässen. Ob für das sachliche und emotionale Verstehen das Wissen über die sexuelle Orientierung der Urheber:innen notwendig ist, darüber gibt es derzeit keine Einigung.
Bei Ethel Smyth kann von dem häufigen Verdrängen ihrer sexuellen Identität in der Sekundärliteratur ausgegangen werden, weil ihr Leben und Werk gleichgeschlechtliche Diskursanlässe beinhaltet. Das Erspüren schwuler Codes in Kompositionen des wegen homosexuel-ler Betätigung gerichtlich verurteilten Frührenaissance-Kapellmeisters Nicolas Gombert ist dagegen ein komplexes Unterfangen. Gombert lebte in einer Zeit, in der männliche Homosexualität als Sodomie definiert wurde und wie jede nicht zum Zweck der Zeugung ausgeübte sexuelle Handlung als Sünde gegen die Religion galt. Unter solchen Prämissen sind die Aufsätze ein wichtiges Plädoyer zum vielschichtigen Verstehen von Musik.
Roland Dippel