Frieder Reininghaus/ Judith Kemp/ Alexandra Ziane (Hg.)

Musik und Gesellschaft

Marktplätze, Kampfzonen, Elysium. Band 1: Von den Kreuzzügen bis zur Gegenwart 1000-1839/ Band 2: Vom Vormärz bis zur Gegenwart 1840 bis 2020

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Königshausen & Neumann
erschienen in: das Orchester 03/2021 , Seite 63

Die Herausgeber fordern für das durch Anwachsen des Materials immer weiter ausdehnbare „Terrain von Musik und Gesellschaft“ nicht „Routinen, Redundanzen und Re­naissancen“, sondern vor allem Überraschungen. Das ist ihnen in dieser spannenden, auf ganz hohem Niveau Lust und Neu-gier machen­den Aufsatzsammlung gelungen. Übersetzt in die Themenfindung heißt das: Die Texte, Bilder und Re­gister bieten Bekanntes in wenig be­dachten Kontexten, bemerkenswer­ten Zuordnungen und ungewöhnli­chen Mischungsverhältnissen. Me­diale Akzente sowie die Verbreitung musikalischer Genres und Besetzungen werden fassbar wie Traditionen und Innovationen als dialektisch bedingte Motoren von Schöpfung und Ausübung.
Damit die Auswahl die Themenschwerpunkte der angefragten Autoren nicht zu subjektiv spiegelte, glich vor allem Frieder Reininghaus mit komplementären Aspekten aus. Metaphern sind hier in den meisten Fällen klar und lakonisch, etwa eine zentrale Anmerkung zur „,Konser­vierung‘ und Transportierbarkeit“ von Musik: „Die Entwicklung ein­schlägiger Techniken seit tausend Jahren weist Pa-rallelen mit zivilisa­torischen Errungenschaften zur Konservierung von Lebensmitteln auf – über das längst gebräuchliche Trocknen, Vergären, Räuchern und Einsalzen hinaus durch Destillieren, später auch durch Eindosen und Tiefkühlen.“
In den einleitenden Beiträgen zu Grundlagen und Funktionen werden musikalische Aufgabenfelder wie Foltern, Hinrichtungen, Trauerrituale, Arbeit und Musik im Kalen­der bzw. zur Vermessung der Zeit definiert. Die Entscheidung für eine lineare, aleatorische oder assoziative Lektüre wird nur enttäuscht, wenn man die profunden Bände als Nachschlagewerk oder Enzyklopädie missversteht.
Die Vielzahl der Autoren garantiert ein weites Sichtfeld. Weil in ei­nem Aufsatz auf maximal acht Sei­ten alles wichtige erwähnt werden musste, ist die Haltung kompakt und direkt. Religiöse Anlässe werden in historischen Zusammenhängen und nur selten in dogmatisch-liturgi­schen Kontexten betrachtet. Das durch die konfessionelle Zerklüftung Europas so dramatische 16. Jahr­hundert ist reflektiert z.B. in einer auch spätere Zeiten berührenden „kurz gefassten Geschichte der musikali-schen Streitkultur“, Heinrich von Kleists Rückgriff auf eine alte Legende in seiner Erzählung Die Heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik aus dem Jahr 1810, aber auch in der Würdigung Torquato Tassos und Ariosts als bis ins 19. Jahrhun­dert bedeutende Sujet-Lieferanten.
Dass es im zweiten Band kaum Beiträge zur Sakral- und Hausmusik gibt, spiegelt auch den Wandel des Musikgebrauchs. Aufsätze zu Cole Porters Musical Anything Goes und Alban Bergs Zwölftonopern folgen direkt aufeinander. Den „Neuen Weltordnungen“ und „neuen Me­dien“ der jüngsten dreißig Jahre sind 100 Seiten gewidmet. Im Jahr 2020 endet die Sammlung mit „Musikle­ben im Ausnahmezustand“…
Roland Dippel