Frieder Reininghaus/ Judith Kemp/ Alexandra Ziane (Hg.)
Musik und Gesellschaft
Marktplätze, Kampfzonen, Elysium. Band 1: Von den Kreuzzügen bis zur Gegenwart 1000-1839/ Band 2: Vom Vormärz bis zur Gegenwart 1840 bis 2020
Die Herausgeber fordern für das durch Anwachsen des Materials immer weiter ausdehnbare „Terrain von Musik und Gesellschaft“ nicht „Routinen, Redundanzen und Renaissancen“, sondern vor allem Überraschungen. Das ist ihnen in dieser spannenden, auf ganz hohem Niveau Lust und Neu-gier machenden Aufsatzsammlung gelungen. Übersetzt in die Themenfindung heißt das: Die Texte, Bilder und Register bieten Bekanntes in wenig bedachten Kontexten, bemerkenswerten Zuordnungen und ungewöhnlichen Mischungsverhältnissen. Mediale Akzente sowie die Verbreitung musikalischer Genres und Besetzungen werden fassbar wie Traditionen und Innovationen als dialektisch bedingte Motoren von Schöpfung und Ausübung.
Damit die Auswahl die Themenschwerpunkte der angefragten Autoren nicht zu subjektiv spiegelte, glich vor allem Frieder Reininghaus mit komplementären Aspekten aus. Metaphern sind hier in den meisten Fällen klar und lakonisch, etwa eine zentrale Anmerkung zur „,Konservierung‘ und Transportierbarkeit“ von Musik: „Die Entwicklung einschlägiger Techniken seit tausend Jahren weist Pa-rallelen mit zivilisatorischen Errungenschaften zur Konservierung von Lebensmitteln auf – über das längst gebräuchliche Trocknen, Vergären, Räuchern und Einsalzen hinaus durch Destillieren, später auch durch Eindosen und Tiefkühlen.“
In den einleitenden Beiträgen zu Grundlagen und Funktionen werden musikalische Aufgabenfelder wie Foltern, Hinrichtungen, Trauerrituale, Arbeit und Musik im Kalender bzw. zur Vermessung der Zeit definiert. Die Entscheidung für eine lineare, aleatorische oder assoziative Lektüre wird nur enttäuscht, wenn man die profunden Bände als Nachschlagewerk oder Enzyklopädie missversteht.
Die Vielzahl der Autoren garantiert ein weites Sichtfeld. Weil in einem Aufsatz auf maximal acht Seiten alles wichtige erwähnt werden musste, ist die Haltung kompakt und direkt. Religiöse Anlässe werden in historischen Zusammenhängen und nur selten in dogmatisch-liturgischen Kontexten betrachtet. Das durch die konfessionelle Zerklüftung Europas so dramatische 16. Jahrhundert ist reflektiert z.B. in einer auch spätere Zeiten berührenden „kurz gefassten Geschichte der musikali-schen Streitkultur“, Heinrich von Kleists Rückgriff auf eine alte Legende in seiner Erzählung Die Heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik aus dem Jahr 1810, aber auch in der Würdigung Torquato Tassos und Ariosts als bis ins 19. Jahrhundert bedeutende Sujet-Lieferanten.
Dass es im zweiten Band kaum Beiträge zur Sakral- und Hausmusik gibt, spiegelt auch den Wandel des Musikgebrauchs. Aufsätze zu Cole Porters Musical Anything Goes und Alban Bergs Zwölftonopern folgen direkt aufeinander. Den „Neuen Weltordnungen“ und „neuen Medien“ der jüngsten dreißig Jahre sind 100 Seiten gewidmet. Im Jahr 2020 endet die Sammlung mit „Musikleben im Ausnahmezustand“…
Roland Dippel