Bernd Willimek/Daniela Willimek

Musik und Emotionen

Studien zur Strebetendenz-Theorie

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: DWV, Baden-Baden
erschienen in: das Orchester 12/2019 , Seite 60

Systematische Untersuchungen zur emotionalen Wirkung von Musik wurden bereits im 19. Jahr- hundert durchgeführt und publiziert. So liegen bis heute zahlreiche Untersuchungen zu den unterschiedlichsten Theorien und Fragestellungen vor, die sich beispielsweise mit den Auswirkungen musikalisch-struktureller Merkmale beim Hören von Musik auf das emotionale Erleben befassen.
Die Bedingungen für derartige Forschungen sind sehr komplex und methodologisch anspruchsvoll, gilt es doch zu bedenken, dass jede Art von Wahrnehmung auf einen komplizierten Konstruktionsprozess mit – vereinfacht ausgedrückt – mehr oder weniger subjektiven und objektiven Anteilen zurückzuführen ist (vgl. E. Bruse Goldstein: Wahrnehmungspsychologie. So ist auch die Beobachtung zu erklären, dass ein Musikstück bei verschiedenen Personen sehr unterschiedliche Emotionen auslösen kann. Ein vorangegangener implizierter (Konditionierung, Assoziation) bzw. explizierter (Unterricht) Lernprozess kann beispielsweise hierfür der Grund sein.
Nun wird in diesen Studien die Theorie aufgestellt, dass sich Emotionen mit musikalischen Harmonien und ihren Verbindungen nur dann darstellen lassen, „wenn sie auf abstrakte Willensinhalte zurückgeführt werden können“. Solche, die sich nicht auf Willensinhalte zurückführen lassen (z. B. Scham, Eifersucht, Neid), können auch nicht musikalisch dargestellt werden. Die Willensinhalte richten sich hierbei gegen die Strebewirkungen von Tönen, deshalb „Strebetendenz-Theorie“.
Indem sich der Hörer nun mit diesen Willensinhalten identifiziert, sei es ihm möglich, Emotionen im Bewusstsein mitzuerleben. So schreiben die Autoren einzelnen Harmonien jeweils einen bestimmten emotionalen Charakter zu und begründen diesen mit zahlreichen Literaturbeispielen aus der romantischen Liedliteratur sowie der Pop- und Filmmusik. Auf diesem Weg werden Bedeutungszusammenhänge hergestellt, die nach ihren Ausführungen emotional nur dann wirksam werden können, wenn mit ihnen vom Hörer ein abstrakter Willensinhalt verknüpft wird.
Doch schon Wilhelm Wundt stellte fest, dass ein abstrakter Wille, der immer gleich ist, nicht existiert, da wir nur einen Gefühlsverlauf wahrnehmen, der mit einer individuellen Vorstellung von Empfindung verbunden ist. Auch ist zu bedenken, dass emotionale Prozesse sehr stark von Erfahrungen beeinflusst werden. und es spielt auch eine Rolle, ob die Probanden die Musik verbal-kognitiv beschreiben und bewerten oder ob sie die beschriebene Emotion auch wirklich erleben.
Die Ausführungen zu den beiden Testreihen mit 2016 Schülern und 23 Musikschulschülern und Musikstudenten aus vier Kontinenten werfen viele weitere Fragen auf, wie beispielsweise die nach dem Einfluss von Musik- und Instrumentalunterricht sowie kognitiven und emotionalen (Lern-)Prozessen unter Berücksichtigung soziokultureller, geschlechts- und altersspezifischer Kausalfaktoren.
Romald Fischer