Oberhoff, Bernd (Hg.)

Musik und das ozeanische Gefühl

Eine Expedition ins Innere der Musik

Rubrik: Bücher
erschienen in: das Orchester 11/2015 , Seite 71

Die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse und Musik gibt es erst seit 2008, sie hat aber inzwischen schon eine ganze Anzahl von Publikationen vorzuweisen. Leitende Idee ihres 4. Symposions 2012 war, dass uns in der Musik eine Dimension begegnet, „die unsere Verhaftetheit in der Realität von Zeit und Raum überschreitet und die emotional erlebt wird als eine unendliche Weite, als ein ozeanisches Gefühl“. Freud kannte dieses Gefühl, wie man aus einem Briefwechsel mit Romain Rolland weiß, verstand es aber als Regression auf eine frühe Entwicklungsphase, in der Selbst und Umwelt noch nicht getrennt sind. Rolland dagegen betrachtete es als religiöses Grundgefühl, als mystische Erfahrung der All-Einheit.
Der Sammelband greift diese Thematik auf, sie dabei vielfach erweiternd. Zu Beginn erläutert Dieter Funke die Dimensionen des ozeanischen Gefühls aus unterschiedlichen Perspektiven. Ozeanisch-undifferenzierte und sprachlich-differenzierte Ich-Zustände werden aber nicht mehr als aufeinander folgend, sondern als selbstständig und sich ergänzend betrachtet. Bernd Oberhoff spricht anschließend darüber, dass dem Unbewussten (als zentralem Konzept der Psychoanalyse) eine sich von der gewohnten unterscheidende symmetrische Logik zugrunde liegt, in der Teil und Ganzes identisch werden können. In seiner Betrachtung der Folia aus Arcangelo Corellis op. 5 weist er darauf hin, wie die Wellengestalt des Themas dieser symmetrischen Logik folgend ihre Wirkung entfaltet, und wie der Affekt der Trauer in Variation 14 und 15 aus psychoanalytischer Sicht zu deuten wäre.
Eine Brücke zur Musikwissenschaft bildet E.T.A. Hoffmanns Rezension der 5. Symphonie von Beethoven, in der er nicht nur über deren musikalische Struktur, sondern auch über die von der Musik ausgelösten Empfindungen spricht; eine gelungene Verbindung beider Aspekte und vielleicht ein Wink an die Musikwissenschaft, eine eigene Terminologie zur Deutung des Emotionalen zu entwickeln, um das Feld nicht ganz der Psychoanalyse überlassen zu müssen. So hätte man angesichts der sich auf den sicherlich nicht unproblematischen Charakter Liszts beziehenden Deutung seiner h-Moll-Klaviersonate, für die Oberhoff eine rein psychoanalytisch orientierte Sichtweise wählt, zum Vergleich gerne auch Hartmut Möllers musikwissenschaftliche Analyse der Sonate kennen gelernt. Sie wurde beim Symposion 2012 vorgetragen, aber leider nicht in diesen Band aufgenommen.
Musik wird in der tiefenpsychologisch orientierten Musiktherapie seit Langem erfolgreich zur nonverbalen Kommunikation eingesetzt. Thema des Beitrags von Martin Lawes ist hier aber Musik als Psychotherapie, also auf welche Art Musik therapeutische Veränderungen bewirken kann, wobei Gedankengänge zum Wach- und Traumbewusstsein eine wesentliche Rolle spielen. Ergänzend dann noch Bemerkungen von Barnim Schultze zur Sphärenmusik bzw. zur Idee einer Vielzahl von möglichen harmonikalen Kammertönen, geeignet, eine ozeanische Gefühle fördernde Musik zu realisieren. Zum Ausklang ein Beitrag des Literaturwissenschaftlers Ludger Lütkehaus über die in den Aufsätzen mehrfach angesprochene Stille als notwendige Rahmenbedingung von Musik.
Ursula Pešek