Gülke, Peter

Musik und Abschied

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2015
erschienen in: das Orchester 07-08/2015 , Seite 64

Abschiede also. Keine mal soeben durchgeführte, gar auf Rückkehr berechnete, sondern solche der endgültigen Weise: jene des Sterbens, des Todes. Finalszenen des Lebens. Weil sie, wenn auch ex negativo, dem
Leben unwiderruflich inhärent, sind sie im kulturellen Gedächtnis der Menschheit verankert. In der bildenden Kunst, in der Literatur und – wie anders auch – in der Musik. Überreichlich sind sie, die Partituren, in denen das unfassbare Ereignis des nicht mehr sich ereignenden Daseins in den zeitlichen Moment einer Tonsprache übergeführt wird. Ob Requiem oder Trauermusik, ob Totentänze oder Totenlieder – die graue Passion des Lebens findet ihre jeweilige Klangsprache – auch wenn ein Osiris sich das Geheimnis seines Reiches nicht entreißen lässt.
So vielfältig, unauslotbar ist die Musik zum Motiv des Abschieds, dass jedweder Versuch, sich ihr zu nähern, einzuschüchtern vermag. Vorstellbar wird ein solches wagnisvolles Unterfangen eigentlich nur, wenn der Autor Peter Gülke heißt. Ihm, dem Verfasser des berühmten Schubert-
Buchs, stehen enzyklopädische Belesenheit, unüberbietbare ästhetische Kompetenz und bilderreiche Sprachkunst zur Verfügung, wenn er, gleich wie Vergil den Dante, den Leser an die Hand nimmt und ihn als Cicerone durch das Feld des Unermesslichen leitet: in über 50, jeweils in sich abgeschlossenen Essays, die die Spannweite von historischer zu zeitgenössischer Musik und deren vielfältigen Gattungen umfassen. Ob Schütz oder Stockhausen, ob Bach oder Kurtag, ob Schuberts Leiermann oder Mahlers Adagio, ob – das kommt auch vor – ein Gedicht von Gryphius oder Kunze: Gülkes auf höchstem Niveau angesetzte Analysen sind Tiefenbohrungen im Bergwerk der Künste an der Schwelle zum Hades. Er, Gülke, macht sie deutlich, die topischen Klangformeln eines Mozart, die musikalischen Pfeiler-Vertikalen eines Bach, die Identitätsverluste Beethoven’scher Themen, die Motiv-Verflüssigungen bei Mahler. Ein schier unendliches Meer an musikalischen Erkundungsfahrten tut sich auf.
Obwohl nicht als Ganzes angelegt, enthüllt sich Gülkes Buch als ganzes Kompendium zum Thema Abschied; eines, das durch die sogenannten Selbstgespräche – Reflexionen des Autors anlässlich des Todes seiner Frau – eine persönliche Note erhält. Bleibt am Ende von Musik und Abschied nur zu sagen: ein großes Buch!
Winfried Rösler