Barenboim, Daniel

Musik ist alles und alles ist Musik

Erinnerungen und Einsichten

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Berlin Verlag, Berlin 2014
erschienen in: das Orchester 05/2014 , Seite 64

Gesprächspartnern, die auf das Antisemitische in Wagners Musik abheben, pflegt der Dirigent Christian Thielemann eine listige Frage zu stellen: „Wie politisch ist die Tonart C-Dur?“ Ein Büchlein des Berlin
Verlags, 2012 als La musica è un tutto in Mailand erschienen, bietet ebenfalls eine Antwort an. In ihm sind neben sechs Vorträgen und Reden, dieDaniel Barenboim in den vergangenen Jahren gehalten hat, vier „Dialoge“ enthalten, also Aufzeichnungen von Podiumsgesprächen, die 2008 bis 2011 anlässlich von Uraufführungen in Mailand stattgefunden haben. Den Eindruck eines inhaltlich lose zusammenhängenden Sammelsuriums komplettieren zwei Aufsätze über Dietrich Fischer-Dieskau und über Tempofragen bei Verdi.
So ist nach der Lektüre nur wenig zu konstatieren, was Barenboim-Verehrer wie Barenboim-Verächter (nicht wenige Israelis können mit dem politischen Kurs eines Juden, der die Annäherung mit dem palästinensischen Volk, den Abriss der israelischen Siedlungen auf palästinensischem Gebiet und die Schaffung eines unabhängigen Palästinenserstaats propagiert und gleichzeitig Richard Wagner ein Genie nennt, nichts anfangen) nicht schon wüssten. Barenboim, das macht diese Auswahl deutlich, ist ein Musiker, der alle Dimensionen der Kunst reflektiert. Und sicherlich ist es die gesellschaftliche, letztendlich die moralische Dimension der Musik, die ihm wichtiger ist als seinen zeitgenössischen Kollegen.
Womit wir bei C-Dur wären: Die Tonart ist so politisch wie derjenige, der sie gerade intoniert oder hört! Daher wären etwa Versuche, die braunen Huldigungswerke eines Richard Strauss ihrer Konnotationen zu entkleiden, wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt. Musikausübung bedeutet für Barenboim, das begreift der Leser, die Artikulation und Reflexion moralischer Standpunkte, ob wir nun über die Waldstein-Sonate reden oder über Don Giovanni, im weiteren Sinn über Faust oder über ein subito piano. Aufklärung, Authentizität, Aufrichtigkeit sind die drei elementaren Stichworte, in der musikalischen Interpretation wie im Leben.
Dahingehend kann Daniel Barenboim übrigens auch ein unbarmherziger Dialogpartner sein. Auf die Frage hin, welche Faktoren Einfluss auf seine Interpretation hätten – das Klavier, die Form des Konzertsaals, der seelische Zustand des Augenblicks, das Publikum –, kanzelt er den Mailänder Musikprofessor Enrico Girardi ab: „Das ist eine langweilige Frage. Das sind alles Dinge von früher. Die Vergangenheit in der Musik, im Leben oder in der Politik interessiert mich nur in dem Maße, in dem sie Einfluss auf die Gegenwart hat.“ Den „Erinnerungen und Einsichten“ dieses Musikers – so der vielleicht nicht ganz glückliche Untertitel des Buchs – wäre dieser Einfluss zu wünschen. Auf dass demnächst jemand einmal Christian Thielemann die Gegenfrage stellen möge: „Wie politisch ist der dreizehnte Februar?“ Die Geschichte hat den Dingen ihren Stempel aufgedrückt. Sie auszublenden hieße nichts anderes, als uns unseres Gewissens zu entheben.
Martin Morgenstern