Geiger, Friedrich
Musik in zwei Diktaturen
Verfolgung von Komponisten unter Hitler und Stalin
Vielfältig ist bereits über Musik im Dritten Reich und über Musik in der stalinistischen Sowjetunion geschrieben worden. Oft geschah das unter dem Gesichtspunkt von gleichartigen totalitären Regimen mit gleicher Verfolgungsweise, Zensur und Liquidierung. Das vorliegende Buch unternimmt den Versuch einer Darstellung der historischen und
nationalen Vorbedingungen der Wende zum 20. Jahrhundert und vor allem der 20er Jahre, um mit den engen Verbindungen der beiden Länder Deutschland und Russland einen vergleichbaren, systematischen Ansatz der diktatorischen Entwicklung in den Begriffen Communitas Abweichung Verfolgung zu fassen.
Diese Trias prägt als Bezug immer wieder grundlegend die Darstellung. Damit ist im NS-Staat die Idee der Volksgemeinschaft als Leitbild von Normalität gemeint (angepasster Volksgenosse ansonsten gemeinschaftsfremd, Kulturbolschewist und auszuschließen). Bei Stalins Sozialismus ist ein dogmatisch erstarrter Begriff von Klasse wirksam (ihr zu dienen im Machtbild der Parteioligarchie, sonst auszuschließender Klassenfeind). Auf diesem Modell der Communitas bzw. dem bei Einhaltungszwang durchscheinenden mehr oder minder direkt eingeforderten Machtinteresse ließen sich dann leicht Feindbilder propagieren. Sie bestimmen in beiden Regimen die Haltung gegen die Musikmoderne als angeblichen Schutz der Volksgemeinschaft und der Beschwörung von deren Sauberkeit, sonst: Säuberung durch Ausgrenzung. Diese Art Verfolgung geschieht wie hier systemastisiert in varianter Weise nach politisch, rassistisch und ästhetisch motivierten Gesichtspunkten.
In der Anwendung werden wesentliche Unterschiede sichtbar gemacht und an konkreten Beispielen dargestellt. Nicht so sehr die bekannten Namen der Zeit zwischen 1932 und 1945 in Deutschland (etwa Strauss, Pfitzner, Egk, Orff) oder solche zwischen 1932 und 1953 in der Sowjetunion (Schostakowitsch, Prokofjew, Chatschaturjan) stehen im Mittelpunkt, sondern solche prägnanter, unter Druck staatlich-parteilicher Administration stehender Komponisten. In Deutschland geschieht die Auswahl vorwiegend unter dem Gesichtspunkt jüdischer bzw. nicht-arischer, marxistischer oder kulturbolschewistischer (modern avantgardistisch hervorgetretener) und somit belasteter Komponisten, unabhängig von ihrer musikalischen Gestaltung.
In Russland dagegen wird mehr die ästhetische Wirksamkeit oder die kompositorische Anlage der Musik bewertet, die erst in zweiter Linie den Komponisten betrifft. Sie muss der politisch-ideologischen Vorgabe der Konzepte der Herrschaft entsprechen. Hierbei seien Phasen mit wechselnder Betonung der Forderungen zu erkennen. Stets aber dient die Kritik als Disziplinierungsvorschlag. Nur wenn nicht befolgt oder abgewichen wurde, setzte Verfolgung und Ausschluss ein. Da die meisten Komponisten sich bemühten, vor allem der Volksverbundenheit zu genügen und modernistische Experimente zu meiden, führte Kritik zu verstärktem Druck und nur selten zur Liquidation. Hier ist ein wesentlicher Unterschied zur Praxis im NS-Staat zu erkennen.
Gemeinsam allerdings ist und bleibt die Frontstellung gegen moderne Musik im Sinne avantgardistischer Kompositionsmethoden. In Deutschland ist sie entartet, kulturbolschewistisch, in Russland eine formalistische Richtung, westlich, bürgerlich-kapitalistisch, der Massenwirksamkeit sozialistischer Vorstellungen abträglich. In Vergleichen werden Probleme offen gelegt. Manchmal bleibt das fragwürdig, wie z. B. bei der Ungleichheit der Aussage und Qualität von Berthold Goldschmidts Oper vom Gewaltigen Hahnrei und Schostakowitschs Katerina Ismailowa oder manchen kurzschlüssigen Folgerungen, die sich aus der ostentativen Weise der Anwendung der zugrunde gelegten systematisierenden Begriffe ergeben.
Aber es ist ein Verdienst der vorliegenden Arbeit, grundsätzliche Probleme diktatorisch beeinflusster Musik im 20. Jahrhundert in ihren Gemeinsamkeiten, aber auch deutlichen Unterschieden anhand authentischen Materials vorgelegt zu haben. Für eine breitere Kreise ansprechende Publikation allerdings erweist sich die Umschrift der kyrillischen Namen in die kompliziert zu lesende Bibliotheksschrift als problematisch. Die des Duden und die früher in der DDR übliche Steinitzsche Umschrift ist da weniger abweisend.
Friedbert Streller