Wolfgang Jansen
Musicals
Geschichte und Interpretation
Wolfgang Jansen entfaltet eine bewundernswerte Produktivität. Nach seiner Bio- und Werkmonografie Willi Kollo und der von ihm edierten Aufsatzsammlung Popular music theatre under socialism startete er die auf sieben oder acht Bände projektierte Reihe Gesammelte Schriften zum Populären Musiktheater mit eigenen, darunter einigen bisher unveröffentlichten Texten. Deutschsprachige Erstaufführungen von Porgy und Bess (Zürich 1945) bis Anatevka (Hamburg 1968) mit umfangreichem Innehalten bei My Fair Lady und West Side Story bilden die Rückenwirbel des ersten Bands.
Allerdings lenken der Titel Musicals – Geschichte und Interpretation und das Titelbild der unter knallbunten Schutzhelmen mit Schlagstöcken bewaffneten Gang aus Barrie Koskys West Side Story-Produktion an der Komischen Oper Berlin 2013 von den primären Verdiensten der Anthologie ab. Jansen schließt mit dieser ein Desiderat der Theatergeschichte: Der lange Weg von den letzten Verrenkungen der genuinen Operetten-Produktion nach 1945 im (west-)deutschen Sprachraum bis zur flächendeckenden Etablierung des Musicals wird in einem profunden Spektrum dargestellt. Schon die Chronik der Werke des populären Musiktheaters im deutschsprachigen Theater der Weststaaten bis 1970 ist für weitere Forschungsansätze unverzichtbar. Seine Beiträge für das Fachmagazin Musicals erweiterte Jansen um Fußnoten, veränderte aber sonst nichts.
Die regionale, theaterpraktische und ästhetische Topografie des deutschsprachigen Musical-Entwicklungslandes zum Schwellenland reicht bis kurz vor „Erfindung“ des Rockmusicals und der Rockoper um 1970 und der Annäherung des Musicals an die Popkulturen.
Zur Darstellung gelangen mit den Anfängen des schwyzerdütschen Musicals und Rio Reisers Beat-Oper Robinson 2000, die 1967 im Berliner Theater des Westens zum Totalflop wurde, auch Zeitphänomene und regionale Spezialnischen. Die durch unternehmerische Aspekte veränderte Situation von Komponisten in den 1960er Jahren wird ebenso thematisiert wie die erst durch Verbreitung der Vinyl-Langspielplatte mögliche Promotion von Musicals mit Original-Cast-Einspielungen und musikalischen (Fast-)Gesamtaufnahmen.
Vor allem macht Jansens Aufsatzsammlung eine schier unbändige Lust auf musikalische Abenteuersuchen in Sphären neben den berühmten Schlagersternen, -sternchen, Elvis-Begeisterung und Volksmusik. Dazu gehören auch die Neuorientierung von Stars des „Dritten Reichs“ wie Marika Rökk zwischen Hello Dolly und Wirbel um Rosi (Wien 1959) oder Zarah Leander in Peter Kreuders Musical-Komödie Madame Scandaleuse. Man erfährt vom frühen Bemühen der Repertoire-Theater um die amerikanischen Bühnenwerke von Kurt Weill, das danach fast bis zur Jahrtausendwende ins Stocken geriet, und erhält einen Eindruck von den enormen Umbrüchen des populären Musiktheaters nach 1950. Dabei hatte dieses für das Kulturleben weitaus umfassendere Konsequenzen als die Nischen-Innovationen etwa der Darmstädter Ferienkurse und Donaueschinger Musiktage.
Roland Dippel