Bach, Johann Sebastian
Musicalisches Opfer BWV 1079
Dirigierpartitur
Nach seiner Wiederveröffentlichung im 19. Jahrhundert galt Bachs Musicalisches Opfer zunächst als Kompilation kunstvoller Einzelteile, nur verbunden durch das königliche Thema, das Friedrich II. Bach bei dessen Besuch im Potsdamer Stadtschloss aufgetragen hatte. Gleichwohl gab es wiederholt Versuche, dem Werk eine sinnvolle Ordnung zu geben. Mit dem Erscheinen der Neuen Bach-Ausgabe 1976 wurden die Grenzen des bis dahin Möglichen aufgezeigt.
Hans-Eberhard Dentler, der Herausgeber der vorliegenden Partitur, unternimmt einen neuen Anlauf, das Material zu ordnen und umfassend zu deuten. Im Vorwort verweist er auf seine 2008 im gleichen Verlag erschienene Studie. Dort zeigt er, wie die drei Einzelteile des Originaldrucks (drei Faszikel mit Einlagen) in der richtigen Weise zusammengefügt eine symmetrische Disposition ergeben. Er nimmt Bezug auf die Begriffe Musica humana, Musica instrumentalis und Musica mundana des spätantiken Philosophen Boethius und ordnet sie den drei Faszikeln zu. Die Symbolik der Zahl sechs führt zu dem Werk Harmonices mundi von Johannes Kepler, der die Lehre des Kopernikus (die sechs damals bekannten Planeten umkreisen die Sonne) in einen ganzheitlichen Kontext von Astronomie, Theologie und Musik einordnet, gipfelnd in der Aufforderung an die Komponisten, diese Idee in einer sechsstimmigen Partitur darzustellen. Ob König Friedrich, der Widmungsträger, ein erklärter Anhänger der Lehre des Kopernikus, diesen Zusammenhang wenn er denn besteht gewollt oder gesehen hat, ist fraglich, erinnerte er sich doch in späteren Jahren irrtümlich an eine achtstimmige Fuge.
Das Musicalische Opfer gilt heute als Jahresbeitrag Bachs für die Correspondierende Societät der musikalischen Wissenschaften des Bach-Schülers Lorenz Mizler, und in diesem Zusammenhang gewinnen Dentlers Thesen an Plausibilität. Keplers Gedanken wurden von führenden Musiktheoretikern und Publizisten wie Werckmeister, Walther (ein Vetter Bachs) und Mattheson aufgegriffen und in den Korrespondenzen der Societät diskutiert. Wenn dies nicht öffentlich geschah, so gab es hierfür triftige Gründe: In Polen, wo Mizler lebte, war die Lehre des Kopernikus verboten, und gelehrte katholische Geistliche, die zur Societät gehörten, konnten sich nur im Verborgenen mit ketzerischen Ideen befassen.
Weit über die bisherigen Feststellungen hinaus beobachtet Dentler das Werk und seine Quellen bis in die allerkleinsten Details, deutet sie und integriert sie in einen umfassenden Ideenkontext. Auch wer seinen Folgerungen nicht oder nicht vollständig zustimmen mag, wird mit ausufernder Gründlichkeit in das weltanschauliche Spannungsfeld eingeführt, in dem Bachs Spätwerk entstand.
Die nun vorgelegte Partitur soll die gewonnenen Erkenntnisse für die Praxis nutzbar machen. Hier nun sind einige Vorbehalte geltend zu machen. Die Forderung, als Continuo-Instrument wegen des nach Meinung des Herausgebers im Werktitel begründeten sakralen Charakters eine Orgel einzusetzen, geht nicht nur deshalb fehl, weil es Belege für die Verwendung des Cembalos in der Kirche gibt. Die Generalbassaussetzung ist oft nur zwei- oder dreistimmig gehalten und beschränkt sich auf das Allernotwendigste. Die zwangsläufig auftretenden Parallelen zu den Melodiestimmen der Triosonate sind zwar kein grundsätzliches Problem, können aber, auf der Orgel gespielt, in einem geringstimmigen Satz unangemessen hervortreten. Hier wäre zu bedenken, dass aus dem Umkreis des Bach-Schülers Kirnberger vierstimmige Generalbassaussetzungen existieren.
Die beste hiervon wurde im Anhang der alten Bach-Ausgabe wiedergegeben (die Neue Bach-Ausgabe bringt nur den 3. Satz). Eine andere Aussetzung mit der genannten im dritten Satz identisch ist an vielen Stellen mangelhaft, aber als einzige in einer Neuausgabe greifbar (Henle).
Problematisch ist die Ausführung des Ricercare a 3 mit Streichtrio. Der Tonumfang von Bratsche (bis b”) und Cello (bis c”) ist stilistisch und klanglich nicht zu rechtfertigen; die Anweisung, die c-Saite der Bratsche während eines fünf Viertel lang gehaltenen g auf H herab zu stimmen, ist befremdlich. Die am Ende wiedergegebene Klavierfassung lässt keinen Zweifel, für welches Instrument dieser Satz bestimmt ist.
Für zwei der zehn Kanons hat Bach die Instrumentalbesetzung festgelegt, die übrigen Entscheidungen traf der Herausgeber. Ungewöhnlich ist die Besetzung des Kanon a 4: Die Streichquartettstimmen werden ergänzt um eine Flöte, die alle tiefen Töne auszulassen hat, dazu eine Orgel zur Verdoppelung der Mittelstimmen sowie Fagott und Violone für den Bass.
Die Auflösungen der Rätselkanons folgen der Neuen Bach-Ausgabe, nur zu dem erwähnten Kanon a 4 erscheint die basslastige Version der alten Bach-Ausgabe und als Alternative eine Auflösung von Francesco
Finotti. Die Besetzung des Ricercare a 6 orientiert sich pragmatisch am geforderten Tonumfang. Die hohe Lage des ersten Cellos ist nicht zu vermeiden, ebenso wenig der Einsatz von Fagott und Violone für den zweiten Bass. Da kein wirklich ausgewogenes Instrumentalensemble für diesen Satz verfügbar ist, könnte der Einsatz der Orgel am ehesten angemessen sein.
Mit seiner Studie hat Hans-Eberhard Dentler wichtige Denkanstöße gegeben, auch wenn vieles nicht beweisbar ist und manches überinterpretiert erscheint. Seine Partiturausgabe kann uns bei der Suche nach den wirklichen Absichten Bachs nur bedingt weiterhelfen. Quaerendo invenietis! Dieses Motto über einem der Rätselkanons sollte uns Mut machen weiter zu suchen, auch wenn gefundene Lösungen nicht den Anspruch erheben können, als unumstößliche Wahrheiten zu gelten.
Jürgen Hinz