Leopoldo Siano
Musica Cosmogonica von der Barockzeit bis heute
Der italienische Musikphilosoph Leopoldo Siano (*1982) lehrt seit 2012 am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln. In seinem neuesten Buch stellt er sich die Frage: Wie klingt der Anfang der Welt? Spielt doch der Klang in zahlreichen Schöpfungsmythen unterschiedlicher Kulturen eine entscheidende Rolle. Dieses Buch versteht sich als eine Reise durch die abendländische Musikgeschichte der vergangenen Jahrhunderte aus kosmogonischer Sicht. Durch die Betrachtung von Werken der westlichen Kulturmusik versucht Siano herauszuarbeiten, mit welchen musikalischen Mitteln die verschiedensten Komponisten es jeweils unternommen haben, die Weltschöpfung zu evozieren und auf welche Klangarchetypen sie zurückgriffen, um den Anfang aller Dinge akustisch darzustellen.
Ausführlich betrachtet Siano die unterschiedlichen religiösen und philosophischen Schöpfungstheorien und spürt ihnen in der Musikgeschichte nach. Die Kapiteltitel „Der jüdische Mythos“, „Musikalische Visionen der Weltentstehung aus dem Geist des alten Indien“ oder „Kosmogonien aus Afrika und Amerika“ zeigen, wie intensiv er die verschiedenen Weltsichten zu erkunden sucht; auch der Urknall und das Naturerwachen kommen nicht zu kurz.
So eröffnet Charles Ives’ The Unanswered Question das Buch, in der Folge breitet Siano eine Vielfalt an Werken jenseits von Haydns Schöpfung, Milhauds La Création du monde oder anderer kanonischer Werke vor dem Leser aus, von Jean-Féry Rebels Symphonie Les Elémens (1737) bis zu Stockhausens Montags-Gruß (1986-88) oder der neunten Symphonie (2009) des Aktionskünstlers Hermann Nitsch.
Sianos Buch ist konzeptionell ausschließlich auf die Kapitelthemen ausgelegt – das Fehlen eines Registers erweist sich so leider als schwere Nutzungsbeeinträchtigung; Querbezüge innerhalb einer musikalischen Kultur muss der Leser während der durchgehenden Lektüre selbst herstellen. Manche Kompositionen werden mit etwas Gewalt in die Konzeption des Buches eingearbeitet, häufig auch nur punktuell, ohne zu prüfen, ob die musikalischen Manifestationen auch für den argumentatorischen Fluss nachhaltig geeignet sind. Umgekehrt eröffnet die Beschränkung einerseits auf einige Hauptstränge der Musikgeschichte, andererseits auf besondere Entwicklungen der neueren und neuesten Musik nur in ganz unterschiedlichem Maße neue Perspektiven. Es muss erstaunen, warum fast die gesamte geistliche Musik, aber auch wesentliche westlich-transzendental denkende Komponisten keine hinreichende Berücksichtigung finden. So vielfältig die herangezogenen Beispiele auf den ersten Blick auch sein mögen, letztendlich erscheinen sie eher beliebig denn zwangsläufig.
Ein besonderes Manko der Publikation ist ihre Ausstattung. Neben dem fehlenden Register ist es vor allem die mindere Qualität der Notenbeispiele und Abbildungen sowie ihrer Legenden. Schade, dass in diesem Arbeitsbereich so deutlich an Mühen und Liebe zum Detail gespart worden ist.
Jürgen Schaarwächter