Wolf-Dieter Peter

München: Lebensnahes Ernstical als Musical

Das Staatstheater am Gärtnerplatz landet mit „Rockin’ Rosie“ einen Coup

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 03/2023 , Seite 52

Klar, die Musikstadt München mit ihren Spitzenorchestern, Musiktheatern und Gesangsstars. Aber München war auch ganz anders, damals in den 1970ern: Da gab es Clubs wie das „Rigan“, „Tiffany“, „Big Apple“ oder „Blow Up“, deretwegen nicht nur Freddy Mercury oder Leonard Bernstein sich in München zuhause fühlten. Da gab es weltweit bekannte Aufnahmeleiter, besser „Sound-Mixer“, wie Harry Thumann oder Giorgio Moroder, dann Sylvester Levay oder Michael Kunze, die komponierten und produzierten – und in die ebenfalls weltweit geschätzten „Musicland“- und „Country Lane“-Aufnahmestudios kamen, neben den Rolling Stones, Led Zeppelin oder Deep Purple und vielen anderen Stars. Eine junge Background-Sängerin war damals mit dabei und zog auch solistisch mit ihren Bands durch die Clubs. Mit ihren Kenntnissen der deutschen Pop- und Rock-Szene saß sie dann lange bei „Rock nach 8“ neben Thomas Gottschalk als Moderatorin im Bayerischen Rundfunk – bis die deutschsprachigen Musical-Bühnen ihre Präsenz und ihr Multi-Talent entdeckten und eine breit gestreute Karriere folgte. Seit 2016 ist sie als soeben ernannte „Kammersängerin“ Ensemble-Mitglied des Gärtnerplatztheaters: Dagmar Hellberg.
Der Komponist Wolfgang Böhmer und der Texter Peter Lund, beide metier-erfahren, setzten sich mit der kommenden Solistin zusammen und ließen sie über „Sex’n Drugs’n Rock’n Roll“-Jahre erzählen. Jetzt stand „die Hellberg“ als „Rockin’ Rosie“ im Zentrum eines 100-minütigen Musicals: Diese Bühnen-Rosie feiert in einer bürgerlich hübschen Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung am Rande Schwabings – Blick vom kleinen Balkon Richtung Münchner Frauen-Kirche (detailfreudige Ausstattung: Rainer Sinell) – ihren 70. Geburtstag; die mit ihr „gereiften“ Band-Mitglieder kommen – ebenso wie ihre Familie, nach über 20 Jahren familiärem Stillschweigen.
Daraus entwickelt Regisseurin Nicole Weber eine mal nostalgische, mal witzige Feier: Der Hard-Rocker und wohl einstige Front-Man „Sir Toby“ muss als unverbesserlicher Aufreißer-Typ Ischias-Altersgrenzen erkennen, was Alexander Franzen überzeugend verkörpert; die „Uschi“ von Frances Lucey fällt erneut auf sein Anbaggern herein und ist so herrlich sexy, dass sie am Ende den jungen, abgehalfterten Verlobten von Rosie-Enkelin Hanna verführen wird; der „Aki“ von Frank Berg führt leise-mitleiderregend vor, wie Demenz beginnt; „Manni“, Erwin Windegger als der durchgehend ruhig-feine Ex-Manager der Band kümmert sich um ihn und gleicht auch sonst mehrfach aus … Denn es bricht trotz – oder wegen – etlicher Joints und Hasch-Keksen das allzu bürgerliche Familien-Chaos aus: Rosie hat 46 Jahre lang ihrem Architekten-Sohn mit der Kleinstadt-Karriere – glaubhaft steif verkörpert von Armin Kahl – verschwiegen, wer sein Vater ist; Enkelin Hanna will sich in eine Ehe mit einem überkorrekten Jungarchitekten flüchten, bricht aber haschgelockert aus – was Florine Schnitzel tänzerisch-turnend und gesanglich hochamüsant gelingt; Gunnar Frietsch als Enkel Vinzenz gibt den Lieber-Gras-rauchen-als-Heuschnupfen-Aussteiger, der in Rosies Garage durchhängt; der kirchenchorsteife Jungarchitekt Maximilian, gespielt von Peter Neustifter, will auf dem Stadtgrundstück von Rosie, das inzwischen Millionen wert ist, ein „Mehrgenerationen-Haus“ errichten, scheitert aber mit Bauplan und Verlobung …
Für dieses sehr realistische, „gutbürgerliche“ Familien-Freundes-Chaos haben Böhmer und Lund eingängige, oft melodiös schwingende, nur kurz in „Freiheits“-Rock ausbrechende Songs geschrieben, die viele amüsante Text-Bissigkeiten enthalten. Alles würde in ein „Ernstical“ führen, wäre da nicht die souveräne Lebensfreude der Rosie, für die Dagmar Hellberg die Bühnen-Statur und selbstverständliche Präsenz mitbringt. Mit strahlender Stimme serviert sie Heute ist mein Tag und ebenso überzeugend führt sie das Band-Ensemble Freiheit an. Da kann die von Andreas Partilla am Keyboard geleitete Band ein wenig loslegen, doch ansonsten gelingt das Kunststück, mal nicht rockig zu dröhnen, sondern differenziert zu begleiten – merci dafür! Zum Höhepunkt des Abends gerät „Mannis“ spätes Liebes-Geständnis Ich seh’ dich jeden Tag: Erwin Windegger sang das am Ende mit glutvoller Emphase und großem Ton – doch wie „die Hellberg“ das Phrase für Phrase auf- und annahm, war nicht nur großes Theaterspiel, sondern auch anrührende, tief empfundene Menschendarstellung. Stehende Ovationen – das unterhaltende Theater hat ein ernstzunehmendes Musical mehr.