Raymond Leppard

Mozart Violin Cadenzas

Performed and edited by Cho-Liang Lin

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz
erschienen in: das Orchester 10/2019 , Seite 61

Raymond Leppard zählt zu den bedeutenden Pionieren der Historischen Aufführungspraxis. Den heute 92-jährigen Dirigenten störte, wie er im Vorwort schreibt, dass die Kadenzen in Mozarts Violinkonzerten häufig wie von Paganini komponiert klingen, zum falschen Jahrhundert gehören und ei­ne Harmonik benutzen, die Mozart fremd war. Als er in den späten 1980er Jahren mit Cho-Liang Lin Mozarts Violinkonzerte aufführte, entstand der Wunsch nach stilgerechteren Kadenzen, die Leppard dann komponierte und einsetzte. Sie sind in den bei Sony erschienenen CDs verwendet worden und werden nun vom Schott-Verlag in einer Notenausgabe zugänglich gemacht. Diese Notenedition enthält die Kadenzen für die Violinkonzerte von Mozart, für das Adagio in E-Dur KV 261 und Rondo in B-Dur KV 269, für das Rondo in C-Dur KV 373 und für die Haffner-Serenade KV 250, die stilgerecht die Themen des jeweiligen Satzes verarbeiten. Ihre Harmonik bleibt im Rahmen der Mozart’schen Klangwelt, ist interesssant und kontrastreich. Leppard setzt die zur Mozart-Zeit üblichen Spielfiguren virtuos ein und bietet so dem Solisten reichlich Gelegenheit, mit seinem Können zu brillieren. Leppard erfasst in diesen Kadenzen über das Stilistische hinaus auch vieles, was für Mozarts Komponieren wesentlich ist. Das Diskontinuierliche, der überraschende Wechsel von Ausdrucksbereichen, dramatische Brüche sind hier ebenso zu finden wie die elegante Verspieltheit dieser Musik, die Mozart’sche Musizierfreude verbreitet. So ist diese Notenausgabe eine nützliche und hilfreiche Handreichung für Violinsolisten, die nach einer dem Geist seiner Musik entsprechenden Lösung für die Mozart’schen Kadenzen suchen. Sie auswendig zu lernen und dann beim Konzert zu spielen, ist sicherlich eine gute Möglichkeit. Vor allem aber geben diese Kompositionen ein Beispiel dafür, wie es gemacht werden kann. Denn wesentlich besser, allerdings auch mutiger wäre es, spontan beim Konzert zu improviseren, wie dies zur Zeit Mozarts noch üblich war. Dabei können die Leppard’schen Kadenzen ein guter Wegweiser sein. Der Dirigent Swarowsky sagte einst: „Wer Mozart richtig spielen will, muss improvisieren.“ Deshalb improvisiert der Pianist Robert Levin Kadenzen während des Konzerts, so wie das auch im 18. Jahrhundert üblich war; denn das ist der eigentliche Sinn der Kadenz. Sicherlich muss eine solche spontane Improvisation zum Stil eines Mozart-Konzerts passen. Aber über stilistische Fragen hinaus gehören zu Mozarts Musik auch Dramen, Abgründe und Unberechenbarkeit. Gerade die Kadenz bietet also die Möglichkeit, Mozarts Musik durch eine lebendige und spontane Improvisation in unsere Zeit zu holen. Doch dazu würde man Violinvirtuosen benötigen, die geistvoll improvisieren können, dafür ausgebildet sind und auch den Mut dazu haben. Solange es noch an solchen Musikern weitgehend fehlt, können die von Leppard komponierten Kadenzen Geigern mit herkömmlicher Ausbildung empfohlen werden.
Franzpeter Messmer