Tüür, Erkki-Sven

Motus I

für einen Schlagzeuger

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Henry Litolff’s Verlag/C.F. Peters, Frankfurt am Main 2012
erschienen in: das Orchester 03/2013 , Seite 71

Dass klassische Komponisten eine Vergangenheit in der Rockmusik haben, ist immer noch selten, auf den 1959 geborenen Esten Erkki-Sven Tüür trifft es aber zu. Seine Formation In Spe avancierte in den frühen 1980er Jahren zu einer der beliebtesten Rockbands seines Heimatlands. Neben Arvo Pärt ist Tüür mittlerweile der wichtigste estnische Komponist, seine Kammermusik- und Orchesterwerke werden weltweit von herausragenden Interpreten aufgeführt, beim Label ECM sind zahlreiche Einspielungen seiner Kompositionen veröffentlicht.
Im Vorfeld seiner vor allem durch die Interpretation der schottischen Schlagzeugerin Evelyn Glennie bekannt gewordenen Komposition Magma für Schlagzeug und Orchester entstanden 1998 das Schlagzeugsolo Motus I und das Percussionquartett Motus II. Die Noten von Motus I sind nun als Kaufmaterial erhältlich, sie werden die Popularität des bereits jetzt vor allem im Bereich der Musikhochschulen relativ viel gespielten Werks sicher noch erhöhen. Zum Marimbafon des Solisten kommen bei Motus I einige Perkussionsinstrumente (drei Tempelblöcke, drei Tomtoms, Tamtam) hinzu, die den Klangraum des Zentralinstruments erweitern.
Das Stück selbst ist eine Tour de Force, die den Spieler pausenlos (!) bei durchgehend hohem Tempo über seine Instrumente jagt. Beginnend mit regelmäßigen Repetitionen auf dem tiefsten Ton des Marimbafons
arbeitet er sich im Laufe der Stückdauer von neun Minuten hinauf bis hin zu den hohen Holzklängen der Tempelblocks. Dabei ist der spannungsvolle Kontrast zwischen regelmäßigen und unregelmäßigen Rhythmen, zwischen pulsierender Energie und kürzesten statischen Momenten sowie die Art und Weise, wie sich diese Gegensätze allmählich durchdringen und gegenseitig ablösen, kompositorisch äußerst virtuos kalkuliert.
Wie in vielen Werken Tüürs bleiben die musikalischen Einzelereignisse für den Hörer unvorhersehbar, sie folgen aber ganz offensichtlich einer präzisen Logik. Obwohl fern vom Rock-Idiom angesiedelt, entwickelt Erkki-Sven Tüür, der in seiner Jugend neben der Flöte auch mehrere Jahre Schlagzeug spielte, in seinem Œuvre oft rockähnliche Energie. Wie in den Schlagzeugkompositionen von Iannis Xenakis entsteht diese durch das Freisetzen eines Pulses aus den Zwängen der Taktschemata.
Das Publikum dankt es den Komponisten, wenn sie ihrer Musik durch den Mix aus Archaik und Komplexität Körperlichkeit und Bodenhaftung verleihen, und gerade die Werke von Erkki-Sven Tüür sind bestens geeignet, neue Hörerschichten für die Musik von heute zu erschließen.

Stephan Froleyks