Johann Sebastian Bach
Motetten
Max Hanft (Orgel), Günter Holzhausen (Violone), Chor des Bayerischen Rundfunks, Ltg. Howard Arman
Die Motette, für lange Zeit die dominierende Gattung in der lutherischen Kirchenmusik, stand während Bachs Leipziger Amtszeit bereits im Schatten der zentralen Kantate. Das Repertoire bildeten hauptsächlich Motettensammlungen aus dem frühen 17. Jahrhundert und es wurde vorgetragen von den „Motetten-Singern“, d.h. von den Thomasschülern, die Bach als noch nicht für die Figuralmusik qualifiziert erachtete. Der Bedarf an Neukompositionen beschränkte sich auf Trauer- und Gedächtnisfeiern, manchmal auch Trauungen, meist für prominente und zahlungskräftige Auftraggeber. Der weitgehende Verzicht auf Instrumente bei Begräbnisfeiern war eine Forderung der kirchlichen wie der weltlichen Obrigkeit.
Die überlieferten Streicher- und Bläserstimmen der Motette Der Geist hilft, die den Chor colla parte verstärken, deuten darauf hin, dass die Trauerfeier für den 1729 verstorbenen Thomasschulrektor Ernesti in der Universitätskirche stattfand, wo die genannte Einschränkung offenbar nicht bestand. Als zweifelsfrei authentisch werden heute nur noch vier doppelchörige Motetten und die fünfstimmige Jesu, meine Freude angesehen. Für zwei vierstimmige Werke ist die Echtheit nicht geklärt, eine weitere besteht aus einem Kantatensatz von Bach, umrahmt von zwei Sätzen von Telemann.
Die hier vorgestellte Aufnahme beschränkt sich auf die fünf authentischen Werke, die allesamt die erwähnten „Gebrauchsmotetten“ in Anspruch und Umfang weit hinter sich lassen. Bekannt ist die Begeisterung Mozarts, als er 1789 in Leipzig bei einer Probe des Thomanerchors die Motette Singet dem Herrn ein neues Lied hörte. Die reine A-cappella-Tradition, die im späten 18. Jahrhundert einsetzte und das romantische Chorideal prägte, ist schon lange infrage gestellt worden, sprechen doch historische Quellen von der Begleitung durch wenigstens ein Orgelpositiv, dazu „Contra-Violons nach Proportion der Anzahl von Sängern“ – so der Bach-Schüler Kirnberger.
Für die Satzstruktur bedeutsam sind vor allem Stimmkreuzungen zwischen Bass und Tenor, bei denen ohne Tiefoktavierung des Chorbasses oft irreguläre Quartsextakkorde entstehen würden. Die Orgel folgt als „Basso seguente“ der jeweils tiefsten Chorstimme, und wenn der Bass pausiert, in der Regel dem Tenor, und geht dabei, wie in einer erhaltenen originalen Continuostimme vorgegeben, seiner harmoniestiftenden Aufgabe nach.
So entspricht die Besetzung dieser Produktion den historischen wie strukturellen Erfordernissen, wenngleich den Continuoinstrumenten etwas mehr Präsenz zu wünschen wäre. Der vorzügliche BR-Chor, zwar groß besetzt, ist stets transparent. Melodische Bögen werden sehr weit gespannt, in den doppelchörigen Werken oft auch die Gruppen übergreifend. Bei diesem Ansatz kommt vor allem die großräumige Architektur der Musik zum Tragen, weniger die „Klangrede“. Eine Produktion, die in ihrer Sensibilität und ihrem musikalischen Konzept in höchstem Maße überzeugt.
Jürgen Hinz