Adolph Bernhard Marx

Mose

Oratorium. GewandhausChor Leipzig, Camerata Lipsiensis, Ltg. Gregor Meyer

Rubrik: CDs
Verlag/Label: cpo
erschienen in: das Orchester 04/2021 , Seite 67

Die Entstehungsgeschichten von Felix Mendelssohn Bartholdys Paulus (1936) und Mose von Adolph Bernhard Marx sind miteinander verflochten. Die beiden jüdischen Komponisten hatten zuerst vor, sich gegenseitig die Textbücher ihrer Oratorien zu schreiben. Aufgrund dramaturgischer Differenzen wurde nichts daraus.
Der Musiktheoretiker Marx, der Mendelssohn bei der Aufführung von Bachs Matthäuspassion in Berlin 1829 unterstützt hatte, hielt Choräle verfehlt für ein Sujet, das vor deren Aufnahme in die christliche Liturgie spielt, und verfasste das Textbuch für den in Breslau 1841 uraufgeführten Mose schließlich selbst. So brach Marx wie Franz Liszt in Die Legende von der heiligen Elisabeth (1865) und Berlioz in La damnation de Faust (1846) die Gattungsgrenzen zwischen geistlichem Oratorium, dramatischer Kantate und großer Oper auf, indem er differenzierte Deklamationen, Arien und Chöre zu Szenen-Komplexen, wie sie sich in der Oper nach 1840 durchsetzten, verschmolz.
Anlässlich der von Liszt in Weimar 1853 initiierten Aufführung des Mose würdigte Joachim Raff die „Oper im Frack“ in der Neuen Zeitschrift für Musik: „Der ,Mose‘ von Marx ist die poetisch-musikalische Darstellung eines weltgeschichtlichen Vorganges.“ Robert Schumann, der 1843 mit Das Paradies und die Peri oratorisches Neuland betrat, konterte: „es hat uns lange nichts so abgestoßen als diese Musik…“
Die Aufführung im Gewandhaus zu Leipzig am 9. November 2019 basierte auf der Neuedition von Nick Pfefferkorn bei Breitkopf & Härtel im Rahmen eines Zyklus von biblischen Oratorien des 19. Jahrhunderts. In dieser Reihe erschien bereits Das Weltgericht des Dessauer Hofkapellmeisters Friedrich Schneider, geplant ist Joachim Raffs Welt- Ende – Gericht – Neue Welt.
Gregor Meyer betont die lyrisch-epischen Akzente des Oratoriums und verortet Marx’ Pioniertat auf dem Strang von Mendelssohns Elias zu Max Bruchs Moses-Oratorium (1893), dessen Handlung genau da einsetzt, wo Marx’ drei Werkteile enden: „Die Berufung“ über die ägyptische Gefangenschaft der Hebräer, „Das Gericht“ mit den Auswirkungen der Plagen und „Der Bund“ nach dem Zug durch das Schilfmeer.
Die Camerata Lipsiensis kostet Marx’ Instrumentationsdetails präzise und klangschön aus: bizarre Klangmalerei zu den Plagen, das Zitat der Geharnischten-Szene aus Mozarts Zauberflöte und die verklärenden Modulationen der von Julia Sophie Wagner mit viel Silber zelebrierten Sopran-Arien von Moses Schwester Mirjam. Die Nähe zu Meyerbeers Dramatik hatte Kai-Uwe Jirka bei seinen Aufführungen des Mose mit der Berliner Sing-Akademie (2009 und 2013) auch durch die Besetzung mit erfahrenen Opernstimmen kräftiger und deutlicher modelliert. Demzufolge ist Daniel Ochoa in der Titelpartie gegen die biblische Darstellung von Moses’ Jähzorn-Anfällen ein Philosoph, der mild und weise die Rolle des Anführers übernimmt. Großartig agiert neben dem klangschönen Solistenensemble der GewandhausChor in den Rollen des Volkes Israel, der Ägypter und des Herrn.
Roland Dippel