Engelbert Humperdinck

More than a Myth. Chamber Music & Songs

Nikolay Borchev (Bariton), Elenora Pertz (Klavier), Thomas Probst (Violine), Ursula Fingerle-Pfeffer (Violine), Susanne Unger (Violine), Daniel Schwartz (Viola), Clara Berger (Violoncello), Jörg Ulrich Krah (Violoncello), Karsten Lauke (Kontrabass)

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Hänssler Classic
erschienen in: das Orchester 03/2022 , Seite 75

Welch ein schräger Titel: More than a myth prangt da in gelben Lettern auf dem Booklet. Indianische Gesänge? Keltische Rundtänze? Isländische Elfenballaden? Nichts davon. Vielmehr enthält die CD Kammermusik und Lieder von Engelbert Humperdinck, einer breiteren Öffentlichkeit leider immer noch nur als Schöpfer der Oper Hänsel und Gretel bekannt. Dass sich trotz oder auch deswegen ein Mythos um den 1854 in Siegburg geborenen Komponisten gebildet hätte, kann man wahrlich nicht behaupten.
Mehr als ein „One-Hit“-Künstler war er aber allemal, vor allem ein genialer Komponist einer Fülle von Bühnenmusik. Man höre nur einmal die Oper Königskinder – ein Meisterwerk, in dem Humperdinck für jede Stimmung den passenden Ausdruck findet, mit Leitmotivik ökonomisch umgeht und längere Szenen durch faszinierende Variationskunst atmosphärisch zusammenhält.
Weniger aktiv war Humperdinck dagegen auf dem Feld der Kammermusik. Rund ein Dutzend Werke hat er geschaffen, vieles davon für das Amateurensemble des Siegburger Amtsrichters Johannes Degen, der ein beachtlicher Geiger und Sänger war. Für ihn schrieb Humperdinck zum Beispiel einen Quartettsatz in e-Moll, datiert vom 4. März 1873. Zu diesem Zeitpunkt war er noch Student bei Ferdinand Hiller am Kölner Konservatorium. Mendelssohn Bartholdy oder Schubert schimmern durch, die klassische Satztechnik hat Humperdinck schon bestens verinnerlicht. Gleichzeitig wagt er immer wieder Ausbrüche ins Offene, schreibt um sich selbst kreisende Musik, hält gewissermaßen die Zeit an, wagt Überraschendes etwa durch Generalpausen. Wenige Monate zuvor wurde ein Menuett für Klavierquintett fertig, gleichfalls ein Beispiel für fortgeschrittene Kompositionstechnik. Die erlaubte es dem 18-Jährigen, stringenten Satz mit expressiven Qualitäten zu verbinden.
Derartige Funde macht man beim Hören dieser aufschlussreichen CD allerorten (in einer Sonate für Violine und Klavier etwa oder in dem Notturno für Violine mit Quartettbegleitung). Hörenswert auch seine Bearbeitung des Vorspiels zu Tristan und Isolde für Streicherensemble und Klavier, dem er einen wirkungsvollen Konzertschluss verpasste.
Man kann nur wünschen, dass die CD einer weiteren Verankerung der Humperdinck’schen Kammermusikwerke in den Konzertprogrammen den Weg ebnet. Das Streicherensemble um den Geiger Thomas Probst nebst der Pianistin Elenora Pertz vertieft sich mit hörbarer Spielfreude in der Musik. Die Kammermusikwerke wechseln sich mit acht Liedern ab, denen sich der Bariton Nikolay Borchev, begleitet von Elenora Pertz, mit schöner Inigkeit und Wärme zuwendet. Er lässt eine samtige, zu vielerlei Nuancierungen fähige Stimme hören, die er nur gelegentlich zu druckvoll einsetzt. Mehr virtuelle Nähe hätte der Aufnahme allerdings gut getan.
Mathias Nofze