Flamm, Christoph

Modest Mussorgski: Bilder einer Ausstellung

Bärenreiter Werkeinführung

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2016
erschienen in: das Orchester 04/2017 , Seite 58

Modest Mussorgskis 1874 im Andenken an seinen verstorbenen Freund, den Künstler Viktor Hartmann entstandene Bilder einer Ausstellung sind heute ebenso populär wie paradoxerweise zugleich unbekannt. Denn das ursprüngliche Klavierwerk ist unter der Fülle seiner Bearbeitungen, allen voran der Orchesterfassung Maurice Ravels, quasi verschüttet worden. Dieses Original wieder ans Licht zu holen und seinen Intentionen auf die Spur zu kommen, ist Ziel der vorliegenden Monografie aus der Reihe der „Bärenreiter Werkeinführungen“. Verfasst hat sie der Musikwissenschaftler Christoph Flamm, derzeit Professor in Lübeck und ausgewiesener Experte für russische Musik.
Flamm geht es um den kulturgeschichtlichen Kontext, in dem das Werk entstand: in einer Zeit des Strebens nach einer nationalrussischen, von westlichen Mustern befreiten Kunst, wie sie vor allem der Kunstkritiker Wladimir Stassow postulierte. Flamm macht denn auch zunächst Stassow, dann den Architekten und Maler Hartmann sowie schließlich Mussorgski als die „drei Väter“ der Bilder einer Ausstellung aus und zeigt, wie die Komposition in ihrer kontrastreichen Bildfolge eine gezielt nationale Tendenz entfaltet.
Deutlich wird, dass Hartmanns künstlerische Vorlagen, soweit sie identifizierbar sind, vom Komponisten nicht bloß abgeschildert, sondern inhaltlich belebt, mit Zusatzkonnotationen versehen und tendenziös zugespitzt wurden. Die Stoßrichtung ist klar: Reiseimpressionen Hartmanns wie „Tuilleries“, der „Marktplatz von Limoges“ oder das „Vecchio castello“ zeigen einen dem Untergang geweihten, dekadenten Westen, „Bydlo“ ein zurückgebliebenes Polen. Dagegen stehen Stücke wie „Gnomus“ (den Flamm weniger von Hartmanns verspielten „Gnom“ inspiriert sieht als durch seinen Kostümentwurf für Glinkas Figur des bösen Zauberers Tschernomor), die „Baba-Jaga“ und vor allem das finale „Heldentor“ als Beschwörung einer urkräftigen russischen Kultur.
Dem Entstehungshintergrund und der Einzelanalyse der Bilder lässt der Band noch eine Rezeptions- und  Bearbeitungsgeschichte folgen, eine Geschichte der Echos des Werks nicht nur in der Musik, wo die Modernität des nicht im engeren Sinn pianistischen Klaviersatzes der Bilder allmählich entdeckt wurde, sondern auch in der bildenden Kunst: Wassily Kandinskys Großes Tor von Kiew darf sogar statt Viktor Hartmanns Aquarell den Bucheinband schmücken. Zu den besonderen Qualitäten der vorliegenden Werkmonografie gehört, dass sie auch die umfangreiche russische Sekundärliteratur zu Mussorgskis Bildern verarbeitet. Zukunftsweisend in Richtung einer sinnvollen Vernetzung von Print- und elektronischen Medien ist ferner, dass der Band Verweise auf zahlreiche nicht abgedruckte Quellen enthält, die als „Zusatzmaterial“ im Internet über die Homepage des Bärenreiter-Verlags zugänglich sind.
Gerhard Dietel