© Historisches Orchesterfoto / Basel Sinfonietta

Roland Dippel

Mit Lust und Neugier

Die Basel Sinfonietta wurde „40+1“, das Sinfonieorchester Basel spielte für 1000 Hörer

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 6/2022 , Seite 42

Mitte Januar 2022 hätten sich in Deutschland viele Veranstalter über solche Bedingungen gefreut. Während sich die Kultur in Sachsen nach Aufhebung der Ende November 2021 angeordneten Schließung langsam hochrappelte und in Bayern Platzangebote von maximal 50 Prozent galten. Die Basler Kultur brummte fast so wie die Gastronomie. Dennoch waren die Betreiber des Stadtcasinos Basel empört darüber, dass im großen Konzertsaal nur 1000 der 1500 Plätze bei 2G freigegeben werden durften. Doch eigentlich waren nur die Warteschlangen beim Einlass wegen der Statusnachweise länger als sonst. Vom 13. bis zum 16. Januar wirkte das Basler Kulturleben äußerst lebendig – fast wie vor der Pandemie: Das Sinfonieorchester Basel spielte im Stadtcasino das Abo-Konzert „Turtelei“ und die Basel Sinfonietta feierte nach dem digitalen Jubiläum im Vorjahr ihr vierzigjähriges Bestehen – jetzt endlich physisch als „40+1“.
Trotzdem war Chefdirigent Ivor Bolton nach dem Konzert des Sinfonieorchesters Basel wenig glücklich. Kurz vor den Basler Auftritten musste er Konzerte bei den Dresdner Musikfestspielen mit dem Festspielorchester und bei der Salzburger Mozartwoche 2022 wegen des Epidemiegeschehens aus dem Kalender streichen. Mit spürbarer Trauer artikulierte Bolton Unverständnis über die Absagen und Beeinträchtigungen. Als musikalischer Direktor des Teatro Real Madrid hatte er dort Anfang 2021 erlebt, wie die großen spanischen Opern- und Konzerthäuser Hygienekonzepte bei hohen Platzkapazitäten mit so gut wie risikofreien Besuchen durchführten.
Unter dem Konzerttitel „Turtelei“ dirigierte Bolton zwei Werke von Britten sowie Mozarts Sinfonia concertante KV 364. Bei zwei Dritteln Platzbelegung machte sich im Stadtcasino kein Gefühl der Leere breit, wie es in Deutschland – neben der Angst vor Ansteckung – die Zuschauerzahlen in den Keller trieb. Am zweiten Abend rückten Brittens 1945 in Rio de Janeiro als „Matinées Musicales“ uraufgeführte Rossini-Arrangements und mit ihnen der „Pas de Six“ aus Guillaume Tell an den Anfang. Bolton und das Sinfonieorchester Basel nahmen diese Petitessen klar und geschliffen. In Mozarts Sinfonia concertante gelang eine durchgeistigt leichte Aura. Die Violinistin Isabelle Faust und der Bratscher Antoine Tamestit dialogisierten mit schöner Linie. Das Sinfonieorchester Basel zeigte auch in Brittens Sinfonischer Suite aus Gloriana op. 53a, dass pandemische Erschwernisse die Atmosphäre nicht erdrücken dürfen.
Ab 2023 plant die Basler Regierung eine schrittweise Verbesserung der Fördersituation für Orchester. Der Förderzeitraum wird von drei auf vier Jahre verlängert, die unterschiedlichen Geschäftsmodelle sollen besser berücksichtigt, die Qualität der Programmgestaltung soll stärker honoriert werden. Das von einer 1988 gegründeten Stiftung getragene Sinfonieorchester Basel behält seine Sonderstellung. Der Kanton Basel fördert die Konzertprogramme der Sinfonietta von Januar 2021 bis Juli 2023 mit 1,9 Millionen Franken. Für den 1981 gegründeten Klangkörper, das Kammerorchester Basel, das La Cetra Barockorchester, das Ensemble Phoenix und die Camerata Variabile werden in diesem Zeitraum insgesamt 4,7 Millionen Franken vergeben.
Die Basler Regierung würdigt die Basel Sinfonietta als „weltweit einziges großes Orchesters für zeitgenössische Musik“, wie sie sich auf dem Titel ihrer Jubiläumsbroschüre nennt. Zum Spezialklangkörper wurde sie aber erst allmählich. In der Gründungsphase von 1979 bis 1981 war der Anspruch, „anders, besonders und überraschend“ zu sein, vorrangig. Zu feiern gab es mit dem dritten Abo-Konzert am 16. Januar viel: Durch eine Geschäftsstelle mit inzwischen sechs Angestellten gewann die administrative Professionalisierung des demokratisch selbstbestimmten Ensembles an Stoßkraft. Principal Conductor Baldur Brönnimann, dessen Position zur Spielzeit 2023/24 Titus Engel übernehmen wird, gewährleistet seit 2016 eine kontinuierliche Programmgestaltung von sechs Abokonzerten je Spielzeit sowie Kooperationen mit internationalen und regionalen Festivals. Im Kulturverein Don Bosco hat der Klangkörper einen festen Standort bezogen, nachdem er während der Umbauphase des 2020 wiedereröffneten Stadtcasinos zahlreiche ungewöhnliche Spielstätten angesteuert hatte. Nicht zuletzt konnte die Honorierung der Musiker:innen in den vergangenen Jahren erhöht werden. Katrin Grögel, Leiterin Abteilung Kultur im Präsidialdepartement Basel-Stadt, sagte im Grußwort längerfristige Finanzierungssicherheit zu.
Zwischen der öffentlichen Probe zum Konzert „Schwerkraft Migration“ und einem Kammerkonzert gab es am 15. Januar eine Podiumsdiskussion. Themen waren u. a. die Zukunft des Orchesters und die Herausforderungen bei der Publikumsgewinnung, vor allem in der jungen Generation. Dabei sieht es mit der Positionierung von Neuer Musik in Basel erstaunlich gut aus. Daniela Martin, Geschäftsführerin der Basel Sinfonietta, fährt einen von der Stadt Basel postulierten Kurs zur regionalen und internationalen Sichtbarmachung von Neuer Musik. Gestützt wird dieser durch einen starken Förderverein und einen stabilen Abonnentenstamm. Die Basel Sinfonietta freut sich wie das Sinfonieorchester Basel über einen leichten Anstieg der Abo-­Anmeldungen. Bei beiden Klangkörpern merkt man, dass der Dialog mit dem Publikum während der Pandemie nicht abriss und auch bei situationsbedingter Sparflamme pulsierte.
Die 172 Seiten dicke Broschüre zum Jubi­läum mit einer Chronik aller Gastspiele sowie Aufsätzen und Interviews zur Geschichte zeigt die Bedeutung der Basel Sinfonietta, deren Erfolgsgeschichte auf ähnlichen Programmideen und selbstbestimmten Strukturen beruht wie die des fast gleich alten Ensemble Modern in Deutschland. Die nach Komponisten geordnete Liste von 220 Ur- und Erstaufführungen reicht von Marina Abramovic’ The Composer (2002) bis Alfons Karl Zwickers Höllenmaschine (1998). Das Konzertprogramm mit dem Titel „Schwerkraft Mig­ration“ beinhaltete die 1. Sinfonie des Schönberg-Schülers Roberto Gerhard (1952/53) als Beitrag vom Beginn der Neuen Musik, das erste Orchesterstück des Schweizers Kevin Juillerat (geb. 1989) als Uraufführung eines Auftragswerks sowie InFALL (2011) von Hèctor Parra als Schweizer Erstaufführung und Beispiel für internationale Vernetzung.
Das Besondere und das Neuartige in größtmöglicher Vielfalt soll Normalzustand bleiben. Die Basel Sinfonietta wirkt frisch, wenn inzwischen auch grundsolide. Demzufolge unterscheidet sich das Publikum kaum von dem „klassischer“ Konzerte. Zeitgenössische Musik findet hier ohne provokative Reizmittel Akzeptanz und Neugier. Die Phase der Selbstlegitimierung hat die Sinfonietta erfolgreich gemeistert. Heute geht es um stabilisierende Weiterentwicklung wie bei einem traditionellen Sinfonieorchester oder Fach­ensemble für Alte Musik. Eine Frage der Zukunft wird sein, wie der einstmals „wilde Haufen“ (Selbstbeschreibung) seine Entdeckungsfreude, Offenheit und Neugier in der erreichten konstitutionellen Ebenmäßigkeit beibehält. Schwellenprojekte zwischen Kunst, Theater und Konzert, Filmkonzerte und andere Formate, bei denen man zu den Trendsettern gehörte, sind inzwischen in Programmplänen vieler Orchester angekommen. Für die Basel Sinfonietta geht die lustvolle Suche nach Kooperationen, Orten und außergewöhnlichen Tonschöpfungen weiter.