Haydn, Joseph
Missa B-Dur “Harmoniemesse”/Symphonie Nr. 88/Sinfonia D-Dur
Der SWR hat es vorgemacht: Bereits 2000 startete man bei dieser Rundfunkanstalt in Kooperation mit Hänssler eine eigene CD-Reihe. Nun zieht der Bayerische Rundfunk nach und bietet dem musikinteressierten Publikum Tondokumente seines Hauses unter einer gemeinsamen Marke an: BR-Klassik nennt sich das neue Label, und um dessen Wiedererkennungswert zu fördern, haben die Rundfunkverantwortlichen in München zugleich den bisherigen Namen ihrer Klassik-Welle geändert: Bayern 4 ist seit Oktober 2009 bei unveränderten Inhalten ebenfalls zu BR-Klassik mutiert.
Mit dem neuen Label will der Bayerische Rundfunk im CD-Markt hervortreten, selbst entscheiden, welche Aufnahmen veröffentlicht werden und setzt über den Handel hinaus auf seinen eigenen Vertriebsweg: den BRshop, in dem die hauseigenen Produkte per Telefon, Fax oder gleich online geordert werden können.
Die ersten acht im September 2009 erschienenen CDs zeigen im Umriss, wie sich der Bayerische Rundfunk mit einem breiten, mehrfach differenzierten Angebot auf dem CD-Markt profilieren will, wobei alle seine Klangkörper einzeln oder in Kooperation zum Zuge kommen: das international renommierte Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit seinem Chefdirigenten Mariss Jansons, dazu das von Ulf Schirmer geleitete Münchner Rundfunkorchester, das längst nicht mehr wie in seiner Anfangszeit nur für die leichte Muse zuständig ist, sondern sich mit geschickt gesetzten thematischen Schwerpunkten ein eigenes Profil erarbeitet hat, und nicht zuletzt der Chor des Bayerischen Rundfunks, dem seit der Spielzeit 2005/06 der Niederländer Peter Dijkstra vorsteht.
Fast ausnahmslos handelt es sich um Liveaufnahmen, die hier zur Veröffentlichung kommen und, soweit sie jüngeren Datums sind, in hochauflösender SACD-Technik vorliegen (aber als Hybrid-Produktion auch
auf konventionellen CD-Playern abspielbar sind). Offensiv sucht sich der Bayerische Rundfunk dabei im Bereich des sinfonischen Standardrepertoires zu positionieren, wo sein Symphonieorchester die Konkurrenz anderer renommierter Klangkörper nicht zu scheuen braucht.
Die beiden vorliegenden Einspielungen mit Aufnahmen der 7. Sinfonien von Anton Bruckner und Gustav Mahler, aufgenommen 2007 im Wiener Musikvereinssaal bzw. der Philharmonie im Münchner Gasteig, zeigen Mariss Jansons und sein Orchester in bestechender Verfassung. Bruckners Partitur wird bei allem breiten Strömen des Klangs immer wieder kammermusikalisch durchlichtet, und Mahlers vielschichtige sinfonische Sprache ist detailreich entfaltet und mit Tiefenschärfe gezeichnet.
Ebenfalls mit Chefdirigent Mariss Jansons am Pult entstand zusammen mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks und vorzüglichen Solisten eine Aufnahme von Haydns Harmoniemesse, ergänzt durch die Sinfonie Nr. 88 sowie die einsätzige D-Dur-Sinfonia Hob. Ia:7. Diese Aufnahme liegt zudem auf DVD vor, wo der Hörgenuss noch durch die Optik erhöht wird: Fand das hier dokumentierte Konzert doch in der Stiftsbasilika im oberpfälzischen Waldsassen statt, deren barocke Sakralarchitektur parallel zu Haydns Musik in Totale wie im Detail ins Bild kommt.
Der Chor des Bayerischen Rundfunks tritt auch eigenständig mit seltener zu hörendem Repertoire in Erscheinung. Peter Dijkstras Neigung zur frankofonen Musik manifestiert sich in einer rundum überzeugenden Aufnahme von Frank Martins Messe für Doppelchor und von Francis Poulencs Litanies à la Vierge Noire. Martins eher herbe Klangsprache wird hier in schwebend leichter Intonation geradezu zum sinnlichen Erlebnis. Ergänzt wird die CD durch eine in Dynamik und Ausdrucksspektrum weiträumige Interpretation von Zoltán Kodálys Missa brevis für gemischten Chor und Orgel.
Neben diesen Neuproduktionen will der Bayerische Rundfunk offenbar sein Schallarchiv durchforschen und besonders gelungene Interpretationen der Vergangenheit wieder zugänglich machen. Den Einstieg hierzu bieten Aufnahmen mit Martha Argerich und dem Symphonieorchester: Noch mit Eugen Jochum zusammen spielte die Grande Dame des Klaviers, deren öffentliche Soloauftritte inzwischen rar geworden sind, 1973 Mozarts B-Dur-Konzert KV 456 ein und 1983 unter dem Dirigat von Seiji Ozawa Beethovens erstes Klavierkonzert. Die Livemitschnitte von damals zeigen die Künstlerin in Hochform: mit einem unverzärtelten, virilen Mozart-Spiel und einer geradezu von Temperament lodernden Beethoven-Interpretation.
Eine ausdrückliche Repertoire-Bereicherung, wenn auch die Aufnahme mit dem Rundfunkorchester von Sprecher-Seite her einige weniger inspirierte Momente hat, bietet die Einspielung von Karl Amadeus Hartmanns Kammeroper Des Simplicius Simplicissimus Jugend in einer durch Wilfried Hiller und Robert Klimesch rekonstruierten Frühfassung, die merklich von der späteren, Simplicius Simplicissimus betitelten Version abweicht.
Von ebensolchem Repertoirewert ist eine Leonard-Bernstein-Veröffentlichung, in der neben den bekannten, betont schmissig dargebotenen Symphonic Dances aus der West Side Story Bernsteins frühe Kurzoper
Trouble in Tahiti erklingt, die ihren Komponisten noch auf der Suche nach einem eigenständigen amerikanischen Musiktheater-Idiom zeigt.
Wie sagte BR-Hörfunkdirektor Johannes Grotzky anlässlich der Präsentation der neuen Reihe? Der Bayerische Rundfunk ergreift mit seinem CD-Label die Chance, auch solche Raritäten präsentieren zu können, die unter kommerziellen Aspekten vermutlich wenig Aussicht auf Veröffentlichung hätten. Gespannt sein darf man insbesondere, welche Resonanz eine weitere Schiene des Angebots finden wird: In einem Doppel-Album erlebt man einen Zwitter zwischen Musik-CD und Hörbuch, nämlich eine thematisch gegliederte Einführung in Bachs Matthäuspassion von Wieland Schmid, die auch dem Kundigen noch manche verborgenen Details von Bachs an Symbolik reicher Partitur erschließt. Die gesprochenen Erläuterungen werden jeweils durch Musikbeispiele treffend illustriert, wobei Bachs Musik auch analytisch in Schichten zerlegt ertönt.
Gerhard Dietel