Joseph Martin Kraus
Miserere
Urtext, Partitur
Der in Miltenberg geborene Komponist Joseph Martin Kraus wird gerne auch der Odenwälder Mozart genannt. Das hat nicht nur damit zu tun, dass seine Lebensdaten (1756-1792) sich mit denen Mozarts fast exakt decken, sondern auch mit der Ähnlichkeit in der Tonsprache der beiden Komponisten: Melodienfreude und Terzenseligkeit, hingebungsvolle Liebe zu kleinen rhythmischen Details, klare Gliederungen und ausgeprägter Sinn für dramatische Effekte sind Aspekte, die gerade auch in den Mozart’schen Vokalwerken häufig zutage treten.
Das Miserere c-Moll entstand vermutlich bereits 1773, als der 17-jährige Kraus in Erfurt Recht studierte, und auch wenn der Musikwissenschaftler Bertil van Boer, der in den 1980er Jahren das mehr als 200 Nummern umfassende Verzeichnis von Kraus’ Werken erstellte, eher von den Jahren 1774/75 als Entstehungsdatum ausgeht, kann man doch festhalten: Der Komponist war in jedem Falle erstaunlich jung dafür, ein so reifes und eindrückliches Werk zu schaffen. Durchaus eigenwillig in manch harmonischer Wendung fasziniert das Miserere dabei vor allem durch seine Sturm-und-Drang-Züge und die strukturellen, harmonischen, dynamischen und melodiösen Gegensätze, die Kraus hier immer wieder gegeneinanderstellt.
Das Miserere besteht aus 13 Sätzen, von denen acht solistisch besetzt sind. Es verlangt je zwei Flöten, Oboen, Klarinetten und Hörner, volle Streicherbesetzung, vier Vokalsolisten, Chor und Continuo und gehört damit sicherlich nicht zu den Stücken, die sich der durchschnittliche Kirchenchor mal so eben am Sonntag leisten kann. Andererseits ist es für den Chor nicht allzu anspruchsvoll zu proben und eignet sich ob seiner Kürze (Aufführungsdauer etwa 30 Minuten) und der vielen solistischen Sätze sicherlich zur Kombination mit anderen, ähnlich besetzten Werken für ein abendfüllendes Konzert. Für die Hörer:innen jedenfalls bietet es neben seiner leichten Fassbarkeit auch echte Melodienfreude und viel Abwechslung.
Die Chorteile sind dabei meist homofon und rhythmisch nicht allzu herausfordernd angelegt; selbst die abschließende Doppelfuge ist auch für einen Amateurchor leicht zu bewältigen. Was etwas erstaunlich anmutet, ist allerdings der relativ hohe Ambitus des Chorsoprans, den Kraus nämlich immer wieder zum b” hochjagt. Historische Quellen berichten gleichzeitig, die Kirchenmusik in Erfurt hätte sich seinerzeit in eher beklagenswertem Zustand befunden. War der Sopran da eine Ausnahme, selbst wenn man davon ausgehen kann, dass der Stimmton damals auf 430 Hz oder gar noch tiefer gelegen haben mag? Oder sang die Sopransolistin den Chorpart mit?
Wie auch immer: Man möchte hoffen, dass auch dieser in Druck und Satz makellose Teil der Gesamtedition der Kraus’schen Werke – herausgegeben übrigens in bewährter Manier von Wolfram Enßlin – dank dieser neuen Ausgabe seinen Weg in das Repertoire nicht nur einiger auf historische Aufführungspraxis fokussierter Spezialensembles finden möge, sondern auch in das der deutschen Amateurchorlandschaft insgesamt.
Andrea Braun