Werke von Georg Friedrich Händel, Carl Heinrich Graun, Georg Philipp Telemann und anderen

Mirrors

Jeanine de Bique (Sopran), Concerto Köln, Ltg. Luca Quintavalle

Rubrik:
Verlag/Label: Berlin Classics
erschienen in: das Orchester 05/2022 , Seite 66

Nicht wenige Sopranistinnen lassen sich auf das Abenteuer ein, sich auch im Koloraturfach der Barockmusik behaupten zu wollen: Juljia Leschnewa zum Beispiel oder Regula Mühlemann – Garantinnen für Gänsehaut, wenn sie ihre Stimmbänder auf den Koloraturparcours schicken, der ja schon im Notenbild aussieht wie die Strecke einer gewagt angelegten Achterbahn. Es fallen einem aber auch die Qualen beim Hören ein, wenn die Achterbahnfahrt der Töne nicht mit der erforderlichen Geschmeidigkeit, Energie und Standfestigkeit gelingt. Denn die Koloratur ist nicht nur die Kunst des Noten-sauber-Singens, es ist eine Ganz-Körper-Kunst, eine der gesamten Persönlichkeit, aller Zellen, aller Resonanzräume.
Eine Sängerin, der das noch besser gelingt als den schon erwähnten, ist Jeanine de Bique. Die Karriere der aus Trinidad stammenden Sopranistin nimmt gerade beeindruckend an Fahrt auf. Ihre Diskografie verzeichnete bisher nur die Rolle der Rodelinda in Händels gleichnamiger Oper unter der Leitung von Emmanuelle Haïm. Seit Herbst 2021 gibt es die erste Solo-CD dieser außergewöhnlichen Sängerin. Das Album mit dem Titel Mirrors enthält Arien aus den Händel-Opern Giulio Cesare, Agrippina, Rodelinda, Deidamia und Alcina und Pendants dieser Partien von Komponisten wie Telemann, Carl Heinrich Graun, Gennaro Manna und Riccardo Broschi.
Mirrors reflektiert zum einen de Biques Koloraturkunst, die sie in ihrer ganzen Pracht in Arien wie die der Cleopatra aus Grauns gleichnamiger Oper, die der Agrippina (L’alma mia fra le tempeste) oder die der Deidamia (M’hai resa infelice) ausstellt. Sie setzt nicht nur die Töne punktgenau, sondern sie verfügt über die Kraft, die Konzentration und einen phänomenalen Stimmsitz, um den Tönen in ihrem Dahinrasen auch ihre eigene Farbe, ihren eigenen Charakter mitzugeben. Koloratur als faszinierende Artistik zum einen und als sinnstiftendes Ausdrucksmittel zum anderen.
De Bique nutzt ihre Debüt-CD aber auch, um einer weiteren Facette ihres Könnens die Bühne zu bereiten: der des langen Atems und der weitgeführten Klänge. Wunderbar, wie sie mit langem Atem die Spannung aufbaut und steigert in „Rimembranza crudel“ aus Telemanns Oper Germanicus; wie sie in der Erstaufnahme der Arie „Mi restano le lagrime“ aus Broschis L’Isola d’Alcina so feine Klänge anschlägt, als kämen sie von einer Glasharfe, oder wie sie die Klage der Cleopatra „Se pietà di me non senti“ aus Händels Giulio Cesare ganz langsam und qualvoll wie aus einer inneren Finsternis auftauchen lässt.
Mirrors (Spiegel) heißt das Album nicht nur, weil die Heldinnen aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden, sondern vor allem, weil es all die faszinierenden Facetten reflektiert und immer wieder jene Gänsehautmomente erzeugt, die die Kunst einer wirklich außergewöhnlichen Könnerin ihres Fachs ausmacht. Das Concerto Köln unter Leitung von Luca Quintavalle unterstützt die Solistin ungemein angeregt und inspiriert. Ein weiteres Plus dieses großartigen Albums.
Laszlo Molnar