Emmanuel Nunes
Minnesang/Musivus
SWR Vokalensemble, WDR Sinfonieorchester, Ltg. Emilio Pomàrico
Als Emmanuel Nunes, der hoch aufgeschossene Charakterkopf im Schatten seiner Lehrer Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez, im Jahr 2012 mit 71 Jahren stirbt, nehmen nur die wenigen großen Feuilletons Notiz vom Tod dieses eigenwilligen Klangzauberers – obwohl er einer der bedeutenden Elektroniker seiner Zeit ist, dem es nicht nur in seinem üppigen Vokalwerk, dort aber besonders, um nichts weniger als das Ganze, die großen Themen des Dies- und Jenseits gelegen war.
Wenn nun die neue Aufnahme des außerordentlich versierten SWR-Vokalensembles seinen Minnesang vor dem Verstauben in den Archiven (oder die Ausgrenzung in die relative Hermetik der Festivals für Neue Musik) bewahrt, dann ist das an sich schon erfreulich. Gänzlich Grund zum Feiern jedoch bietet die Qualität der Aufnahme sowie die überraschende Überzeitlichkeit dieser Musik, die Mitte der 1970er Jahre als eine der gelungensten Auseinandersetzungen mit dem Instrument Stimme in seiner reinen, der unbegleiteten Form gelten darf.
24 Minuten währt die Verhandlung des Textes aus der Feder des deutschen Mystikers Jakob Böhme, dessen pantheistische Spekulationen nicht nur die deutschen Frühromantiker beeinflusste, sondern auch das Fundament für die (Hegel’sche) Dialektik legte. Eine immense Textmenge voller Poesie im Spannungsfeld von Natur und Jenseits schließt Nunes für mindestens die halbe Zeit des Werks in einen simplen Vier-, manchmal nur Zweiklang ein, in dem zwölf Sänger, paarweise im Raum verteilt, vokale Ausdrucksformen erproben: Gesang mit offenem oder geschlossenen Mund, Sprechgesang auf bestimmten oder unbestimmten Tonhöhen, frei gleitendes Sprechen, rhythmisches Lesen in notiertem Tonfall. Eine eigenartig psalmodierende Litanei entspinnt sich in Raum und Zeit, von dynamischen Extremen belebt, durchzogen von Verständlichem und Nebulösem, hoch virtuos geschachtelt und rhythmisiert. Zur Mitte hin verdichtet sich die sparsame Tonalität ins chromatische Total, um am Ende in Großer Terz und Großer Sekund zu verklingen.
Diesem wunderbaren Frühwerk aus der Feder Nunes’ stellt die CD eine weitere nicht-elektronische Komposition zur Seite: den Mitschnitt der Uraufführung von Nunes’ erweiterter (und finaler) Fassung des Orchesterwerks Musivus, die im März 2001 das WDR Sinfonieorchester unter Emilio Pomàrico in Köln besorgte. Musivus befragt, ebenso wie Minnesang, den Konzertraum selbst auf seine Funktion für das Entstehen von Klang und Bedeutung. Hier interagieren vier unterschiedlich besetzte Gruppen auf vier getrennten Podien miteinander in einer Musik, die aus kleinen „Zellen“ einen großen, 40-minütigen Organismus bildet. Ein bizarres, patchworkartiges Gebilde wächst in der hörenden Vorstellung zu einem sich aus sich selbst heraus immer wieder gebärenden Kosmos. Der WDR und sein damals schon mit der Avantgarde überaus vertrauter Leiter Pomàrico erweisen sich als kompetente Sachwalter von Nunes’ eigensinniger Stimme im Konzert der Moderne.
Armin Kaumanns