Zehle, Sibylle

Minna Wagner

Eine Spurensuche

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Hoffmann und Campe, Hamburg 2004
erschienen in: das Orchester 10/2004 , Seite 80

Nachdem Richard Wagners erste Ehefrau jahrzehntelang kaum Beachtung fand, liegt nach Eva Riegers Buch Minna und Richard Wagner. Stationen einer Liebe von 2003 (vgl. Das Orchester 10/03) nun eine weitere Abhandlung über Minna vor. Obwohl beide Versuche zeitlich parallel entstanden (Zehles Buch sollte sogar ursprünglich ein Jahr früher beim Insel-Verlag erscheinen), ist die später publizierte Darstellung natürlich von vornherein im Nachteil. Rieger konnte das bestehende Minna-Bild nachdrücklich korrigieren und eine schmerzliche Lücke in der Wagner-Literatur füllen. Wozu, fragt sich der Leser, dann noch ein zweites Buch?
Obwohl Überschneidungen, insbesondere in den Quellenzitaten, unvermeidlich sind, versucht Zehle, sich in zweierlei Hinsicht von Rieger abzusetzen: erstens durch eine stärker auf die Person Minna Wagners als auf deren Funktion für Richard bezogene Perspektive, zweitens durch einen eher für eine Zeitschriften-Serie als ein Sachbuch typischen Feuilleton-Stil. Die im Titel erwähnte Spurensuche nahm die Autorin ganz wörtlich und bereiste „als Reporterin in der Vergangenheit“ (S. 7) die Wohn- und Wirkungsstätten der Wagners. Das klingt spannender, als es sich bei der Lektüre erweist, denn die Atmosphäre von einst lässt sich durch die erhaltenen Dokumente allein nicht mehr vermitteln; und so greift die Autorin zur freien Ausspinnung, die – wenngleich gelegentlich (wie S. 130) selbst in Frage gestellt – mit einer sachlichen Spurensuche kaum noch etwas zu tun hat.
Zugegeben: Das Buch liest sich sehr unterhaltsam und Zehle gelingt manch treffende Bemerkung („In Wahrheit ist Minna auf diesem grünen Hügel [in Zürich während der Wesendonck-Affäre ihres Mannes] die einzige wirklich tragische Figur“, S. 402). Dem steht jedoch eine Reihe von unbelegten Spekulationen (etwa der „Betrug“ Minnas durch ihren Mann mit Seraphine Mauro, S. 487) und fragwürdigen oder widersprüchlichen Schlussfolgerungen gegenüber. So kommentiert die Autorin Wagners Abwendung von der Grand Opéra nach seinem Rienzi mit: „Richard war gewachsen. Minna blieb zurück“ (S. 188), bemüht sich aber später energisch, Minnas Verständnis der späteren Opern Tannhäuser und Lohengrin nachzuweisen.
Im Widerspruch zur Einleitung, in der Zehle behauptet, eine kritische Zuneigung zu Wagner zu haben, steht freilich überhaupt die Tendenz des dritten Teils (ab der Zürcher Zeit, 1849 ff.): Wollte Rieger es ausdrücklich vermeiden, „bei aller Kritik Richards ihn mit Häme [zu] überziehen und als menschlich charakterlos dar[zu]stellen“, so tut Zehle gerade dies mit zunehmendem Eifer. Aber die breit angelegte Schilderung Minnas als Opfer Richards führt immer stärker weg vom eigentlichen zeit- und musikgeschichtlichen Interesse an ihrer Person – das nun einmal, ob man will oder nicht, an den Komponisten angebunden ist.
Immerhin sind die zitierten Dokumente mit Hilfe von Jutta Temme solide recherchiert, wenngleich die ausführlichen Nachweise nur über die Verlagsseite im Internet zugänglich sind. Eine nicht unbeträchtliche Zahl von Versehen und Fehlern (z. B. die Identifikation des „Königsberger Juden“, S. 225, recte: Schirach Sternberg) konnte gleichwohl nicht vermieden werden – wie beispielsweise die falschen Abbildungen S. 61 (auch für den Umschlag benutzt) und S. 218. Die Fotos zeigen die Sängerin Minna Wagner, verh. Ueberhorst (1840-1910), die, soweit bekannt, nichts mit Richard Wagner zu tun hatte.
 
Peter Jost