Reimann, Aribert

Miniaturen

für Streichquartett, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2005
erschienen in: das Orchester 06/2006 , Seite 83

Sie dürfen als erstes Streichquartett Aribert Reimanns gelten, die 2004/05 entstandenen und im vergangenen Jahr in Essen vom Petersen-Quartett uraufgeführten Miniaturen. In rund 20 Minuten und 15 knappen, unbetitelten und unmittelbar ineinander übergehenden Sätzen werden Musiker und Zuhörer mit einem „typischen Reimann“ konfrontiert: zugespitzt im Klang, komplex in der rhythmischen und harmonischen Anlage, kraftvoll bewegt und immer musikantisch. Diese Musik bringt das Miteinander von zwei Violinen, Bratsche und Violoncello, die geistreiche Konversation eines Streichquartetts auf den Punkt.
Der Fluss von Aribert Reimanns Musik wird auch von den Binnenstrukturen der Miniaturen und von den Satzgrenzen nicht aufgehalten. Im Gegenteil ist man versucht, von einer Entwicklung, vielleicht sogar einer Folge von Variationen im übertragenen Sinne zu sprechen. Das Auftragswerk der Essener Philharmonie ist dabei quasi in einem ständigen Alarmzustand, die Stimmen reagieren feinnervig und unmittelbar aufeinander. Dem Duktus der musikalischen Rede, dem natürlich sich entspinnenden Diskurs ordnet sich die rhythmische Anlage vollständig unter. Da sind dann auch die häufigen Taktwechsel von keiner offensichtlichen Bedeutung mehr.
Die Miniaturen von Aribert Reimann, der im vergangenen März seinen 70. Geburtstag feiern konnte, stellen hohe und höchste Anforderungen an die vier Streichquartettmitglieder. Es kommt bei der Aufführung des Werks vor allem auf ein äußerst präzises und dennoch nie starres Zusammenspiel an, auf ein hochsensibles und aufmerksames Reagieren aufeinander und auf eine klangliche Behutsamkeit. Diese Behutsamkeit ist auch dort notwendig, wo sich Reimanns Quartett mit geradezu ungestümer Vehemenz und schroffer Kantigkeit fast verausgabt. Auch im Fortissimo sind Kontrolle und der Sinn für Kontraste gefragt.
Tonlich bewegt sich Reimann durchaus in „klassischen“ Bahnen und nutzt die orthodoxen klanglichen Möglichkeiten des Streichquartetts. Konturen entstehen durch zahlreiche Abstufungen von pizzicato und arco, Kontraste durch die mal homogene, dann wieder stark uneinheitliche Tonerzeugung der vier Streicher. Die Miniaturen durchschreiten dabei den gesamten zur Verfügung stehenden Klangraum, um mit einem Höchstmaß an Differenzierungsmöglichkeiten zu einer enormen musikalischen Dichte zu gelangen.
Aribert Reimanns Partitur konzentriert die Aussage in jedem Moment und schafft ein hochkomplexes und dennoch nicht unzugängliches Geflecht, in dem die vier Stimmen nicht nur mehr sind als ihre Summe, sondern ganz unzweifelhaft zu einer Einheit, einem musikalischen Organismus verschmelzen.
Daniel Knödler