Martin Trageser

Millionen Herzen im Dreivierteltakt

Die Komponisten des Zeitalter der „Silbernen Operette“

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Königshausen & Neumann
erschienen in: das Orchester 12/2020 , Seite 62

„In der Operette gewesen. Habe mich amüsiert, aber unter meinem Niveau.“ Karl Kraus war bekanntlich ein großer Bewunderer der Offenbach-Operetten, prägte die schönsten Bonmots über das Genre, auch bissige Anmerkungen über den späteren Hang des „silbernen“ Operettenzeitalters ins Sentimentale. Martin Trageser hat in seinem Buch die Komponisten dieser Epoche versammelt. Viele von ihnen sind durch die Spielpläne bekannt, viele vergessen und fast bei allen fällt ein Muster auf: Sie haben bis in die 1920er Jahre für einen musikalischen Unterhaltungsmarkt produziert wie am Fließband, fast jedes Jahr ein neues Werk, was sich – auch wenn es der Autor nicht schreibt – auf die Qualität der Libretti ausgewirkt haben muss.
Eindrucksvoll sind allemal die Aufführungs-Zahlen, von denen man heute bei Novitäten nur träumen kann. Das Publikum wollte zu gern die Stars der Szene auf der Bühne sehen. Die Melodien der erfolgreicheren Operettenkomponisten schafften es bis an den Broadway, wo die Stücke mit anderem Text und veränderter Handlung erneut zu Hits wurden. Die „silbernen“ Komponisten machten offenbar ihren Weg nicht nur mit „klassischen“ Operetten, sondern auch in musikalischen Kabaretts oder als Schöpfer von Musik-Revuen: Die Genres heben sich hier scharf voneinander ab. Manche Operettenmelodien wurden zu Schlagern in ihrer Zeit, manche regelrecht zu Allgemeingut.
Der Autor Trageser zitiert recht viele Texte aus der Zeit von 1914/18 – überwiegend zu Märschen, die im Zuge der patriotischen Begeisterung zu Beginn des Ersten Weltkriegs geschrieben wurden: Überzeugte Nationalisten waren offenbar fast alle, politisch naiv viele, was sich nach 1933 rächte. Es werden diese Komponisten in kurzen Biografien und Werkverzeichnissen gewürdigt: Carl Michael Ziehrer, Franz Léhar, Oscar Strauss, Leo Fall, Georg Jano, Leo Ascher, Edmund Eysler, Bruni Granichstaedten, Charles Weinberger, Oscar Nedbal, Ralph Benatzky, Robert Stolz, Paul Lincke, Walter Kollo, Willi Kollo, Jean Gilbert, Eduard Künneke, Léon Jessel, Rudolf Nelson, Victor Hollaender, Emmerich Kálmán und Paul Abraham. Die Biografien haben nahezu alle ein ähnliches Muster: Einer Szene aus dem Leben folgt in knappen Sätzen die Lebensbeschreibung, in ihrer Chronologie ergänzt mit Inhaltsangaben ausgewählter Werke, die in Auszügen vorgestellt werden.
Etwas mehr kritische Distanz zur Selbstdarstellung der ehemaligen Erfolgskomponisten wäre vielleicht angebracht, denn oft zitiert Trageser aus deren Erinnerungen, wie auch die politische Geschichte bisweilen etwas lakonisch daherkommt. Auch würde man sich eine bessere Übersichtlichkeit wünschen (Absätze, Fettdruck), denn Zitate aus den Memoiren der Komponisten oder aus der zeitgenössischen Presse sind genauso kursiv gesetzt wie die Stücktitel, und ein Glossar würde helfen. Aber das Buch liest man mit Gewinn. Es ist, als würde man in einem Antiquariat stöbern. Welche Schätze da zu heben sind, sieht man erst, wenn man alles mal
in der Hand hatte.
Gernot Wojnarowicz