Werke von Bartók, Ligeti, Kurtág und Kodály
Mikrokosmos – Seelenverwandtschaften
Vidor Nagy (Viola)
Ein exzellenter Auftritt. Ein außergewöhnliches Programm. Ein faszinierendes Ambiente. Und das alles doppelt – als solle sich beim einstündigen Vortrag dieser 17 Stücke für Solo-Bratsche nicht der geringste Anschein von Einförmigkeit einstellen: zwei inhaltliche Leit-Motive; zwei verschiedene Medien-Formate als Audio-CD und Video-DVD; zwei aufschlussreiche Auftrittsorte, die schlichte Reformierte Kirche in Alsöörs (Ungarn) und die festlich geschmückte Evangelisch-Lutherische Kirche in Cluj-Napoca (Rumänien).
Vidor Nagy ist der Akteur in diesem vielversprechenden Umfeld und ein idealer Interpret der Seelenverwandtschaften. In Budapest geboren, an der dortigen Musikakademie und in Detmold ausgebildet, dreißig Jahre als 1. Solo-Bratscher beim Staatsorchester Stuttgart wirkend und zudem mit vielen Internationalen Auftritten, Uraufführungen und CD-Einspielungen hervorgetreten, verfügt er über das nötige Gespür und Geschick, um die Charaktere und Intentionen seiner Landsleute meisterhaft zur Geltung zu bringen. Seelenverwandt sind sie in ihrer Herkunft aus der ungarisch-siebenbürgischen Region, im Widerstand gegen politische Systeme und die ideologische Vereinnahmung der Folklore und in ihrer Verwurzelung in authentischer Volksmusik. So sind denn auch individuelle Freiräume und eine extreme musikalische Feinarbeit ihr Mikrokosmos.
Beziehungsvoll gerahmt wird Nagys Auftritt von den beiden Klassikern der ungarischen Moderne Béla Bartók und Zoltán Kodály; sie gaben die Musiksprache und die Traditionen vor, die György Ligeti und György Kurtág als renommierteste Vertreter der nachfolgenden Generation aufgegriffen haben. Und die Binnenform der Werke liefert auch die Vorlage für das Gesamtprogramm – es erscheint als großer Bogen, als Brückenschlag, der Charaktere und Kulturen verbindet.
Bartóks Sonate für Violine solo, die hier in einer Bearbeitung für Viola erklingt, entstand 1943/44 im New Yorker Exil für Yehudi Menuhin, dessen Bach-Spiel zur Inspirationsquelle für den Komponisten wurde. Strenge, spröde Klanglichkeit, kunstvoll stilisierte alte Tänze und polyfone Formen stehen im wirkungsvollen Kontrast zu schönem Volksliedmelos und emotionaler Wärme. Das Wechselspiel zwischen Virtuosität und Kontrapunktik führt auch Ligetis Sonate für Viola solo (1991/94) vor. Dessen ständiges Suchen und Finden, das Ringen mit dem und um das Material zeigt sich in barocken Reminiszenzen und osteuropäischen Folklore-Intonationen ebenso wie in Latino-Harmonien und Jazz-Anleihen. Kurtágs sechs Miniaturen Jelek („Zeichen“) für Viola solo von 1961 sind hingegen gänzlich durch die kristallinen Strukturen Anton Weberns beeinflusst; sie treten als Mikro-Strukturen und Mikro-Formen auf, die keinesfalls sprachlos bleiben mit ihren Tempo-Vorgaben, die auch Ausdrucks-Chiffren sind. Den wohligen Schlusspunkt in diesem fulminanten Programm und Konzert setzt Kodálys Adagio aus dem Jahr 1905 – ein Jugendwerk voller romantischer und Impressionistischer Züge, komponiert an der Schwelle zu den folgenden Folklore-Studien. Auch das ein Zeichen von kultureller Vielfalt und schöpferischem Neubeginn – wie alle diese Kompositionen…
Eberhard Kneipel