Ernst, Michael

Michail Jurowski

Dirigent und Kosmopolit - Erinnerungen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Henschel, Leipzig 2015
erschienen in: das Orchester 02/2016 , Seite 65

„Er kannte mich, bevor ich ihn kannte.“ Dieser oft gebrauchte Satz in den Erinnerungen von Michail Jurowski gab den ersten Impuls, die Biografie des russisch-deutschen Dirigenten zu schreiben. Und er kehrt immer dann wieder, wenn von den vielen Begegnungen mit Dmitri Schostakowitsch und seiner Musik die Rede ist. In der Kindheit hat ihn Jurowski als Freund der Familie erlebt. In der Jugend spielte er mit ihm Klavier, lernte durch ihn seine Werke kennen, erfuhr von Erfolgen und Ängsten und erhielt Hinweise für die Aufführung der Sinfonien. Diese Erfahrungen und sein „zweiter Beruf“ als Musikwissenschaftler befähigten den Dirigenten, den Sinn von Musik in der Tiefe einer Komposition aufzuspüren. Bei Beethoven genauso wie bei Schostakowitsch, dessen Musik er nicht nur Maßstab setzend interpretiert, sondern auch schlüssig deuten und darum manches aus Wolkows Memoiren ins Reich der Fantasie verweisen kann.
Im kleinen Kurort Gohrisch bei Dresden, in dem Schostakowitsch 1960 das 8. Streichquartett, ein bedrückendes „autobiografisches Meisterwerk“, komponiert hat, gründete Michail Jurowski fünfzig Jahre später als Mann der ersten Stunde die Internationalen Schostakowitsch-Tage – mit der Sächsischen Staatskapelle und berühmten Gästen wie Rudolf Barschai, Kurt Sanderling, Natalia Gutman, Gidon Kremer und dem Borodin-Quartett als Partnern. „Ich habe das Gefühl, dass ich mein ganzes Leben auf diesen Moment hingearbeitet habe.“
Dieser Satz Jurowskis führt das zweite Leitmotiv ein: „Ich arbeite wie eine Bohrmaschine.“ Am 25. Dezember 1945 in Moskau geboren, studierte er am Tschaikowsky-Konservatorium bei Leo Ginsburg und Alexej Kandinsky („Harte Arbeit und harte Regeln“), erhielt als Assistent von Gennadi Roschdestwenski beim Großen Sinfonieorchester des Staatlichen Rundfunks und Fernsehens Anregungen, Chancen und Freiheiten und wurde 1978 Gastdirigent an der Komischen Oper Berlin und 1988 an der Semperoper Dresden. 1990 verließ er den „Goldenen Käfig Moskau“, das Bolschoi und das Stanislawski-Nemirowitsch-Dantschenko-Theater antijüdischer Repressalien wegen und fand in Dresden die „Tür ins deutsche Musikleben“.
Ein Neubeginn mit Mitte 40. Neue Erfahrungen, Schwierigkeiten und Erfolge. Und ständig unterwegs: Generalmusikdirektor und Gastdirigent von Opernhäusern und Orchestern in Dresden, Berlin und Leipzig, in Rostock, Herford, Köln und im schwedischen Norrköping, viele Auftritte zwischen der Mailänder Scala und dem Moskauer Bolschoi, in Übersee und dazu mehr als 50 CD-Produktionen. Pausenlos läuft die Bohrmaschine; die Liebe zur Musik treibt sie an. Probleme mit seiner Gesundheit hindern Jurowski nicht daran, „25 Stunden am Tage“ zu arbeiten. „Ich bin nicht stolz. Ich bin glücklich“, zieht der Weltbürger, dessen Kinder sich ebenfalls der Musik verschrieben haben und der 2015 seinen Vater Wladimir mit einer schönen CD-Aufnahme bei cpo geehrt hat, menschlich, künstlerisch und als Zeitzeuge Bilanz. Michael Ernst präsentiert sie uns als lebendiges und beeindruckendes Porträt.
Eberhard Kneipel