Kurt Weill

Mahagonny/Chansons des Quais/Kleine Dreigroschenmusik

Ute Gferer, Winnie Böwe, Amarcord Ensemble Modern, Ltg. HK Gruber

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Ensemble Modern Medien
erschienen in: das Orchester 10/2019 , Seite 67

Die beiden Eckpfeiler dieser CD kennt man: Schon die Einspielung der Dreigroschenoper des Ensemble Modern mit Nina Hagen wurde zu einem von ordinärer Brillanz getragenen Präzisionsfeuerwerk und damit ein Höhepunkt der Weill-Interpretation. In gleicher Höhe bewegt sich diese Neuerscheinung, auf der die Mitwirkenden dem sensationellen Mittelteil ein fetzig ausmusiziertes „Mahagonny-Singspiel“ vorausschicken. Ein Rätsel sind noch immer die Chansons des Quais (1934/2017), hier in der von der Kurt-Weill-Foundation in Auftrag gegebenen Fassung, die beim Kurt-Weill-Fest in Dessau am 12. März 2017 zur Uraufführung gelangten. Nach der „Machtergreifung“ floh Weill 1933 zuerst nach Paris, wo er zwischen Die sieben Todsünden der Kleinbürger für das Théâtre des Champs Elysées und seiner zweiten Sinfonie das Bühnenwerk Marie Galante nach dem Roman von Robert Gaillard komponierte. Die Kurt-Weill-Foundation bezeichnete das Stück als „Play with music“, der Deutschlandfunk anlässlich der Wiederaufführung mit Chiara Muti 2007 in Rom als Oper und der Booklettext der vorliegenden CD als musikalische Bearbeitung. Auf alle Fälle floppte das Opus 1934 in der Seine-Metropole und Weill nahm es sich nach Ankunft in Amerika im Rahmen seiner Musiktheater-Experimente erneut vor. Das Ergebnis der Umgestaltung aus dem Bühnenstück wurde der Zyklus Chansons des Quais (mit dem englischen Titel Songs of the Waterfront). Die vorangestellte Introduktion stammt aus der vom Ensemble Modern bereits separat komplett aufgenommenen und Material aus Marie Galante aufgreifenden Suite panaméenne. Ausschnitte aus Marie Galante erklangen bereits mehrfach in Konzerten und Einspielungen, doch die Besinnung auf eine Besetzung mit zusätzlichen (männlichen) Stimmen neben dem zentralen Frauenpart erfolgte erstmals seit 1934. Weill selbst hielt das Bühnenstück für verunglückt. Dabei macht die Handlung neugierig: Marie Galante verdingt sich, um eine Schiffsreise von Panama nach Europa bezahlen zu können, als Prostituierte. Sie gerät unter Spionageverdacht und wird schließlich ermordet. In den je fünf Instrumental- und Vokalsätzen schlägt Weill internationale Stil-Kapriolen mit Anklängen an Habaneras, Tangos und Schlager. Das französische Kolorit wäre auch in einer anderen Sprache unüberhörbar. Ute Gferer gelingt im finalen „Le Train du Ciel“ mit den ihr sekundierenden Herren Robert Pohlers, Frank Ozimek, Daniel Knauft und Holger Krause eine ganz wunderbare Weill-Hommage. „J’attends un Navire“ wurde zu einer Hymne der Résistance. In der abschließenden Kleinen Dreigroschenmusik gibt sich das Ensemble Modern distinguiert, elegant und trocken. Die Zweideutigkeit entsteht hier aus Perfektion. Einmal mehr ist HK Gruber und seinem idealen Ensemble eine erstklassige Weill-Einspielung gelungen.
Roland Dippel