Johann Sebastian Bach
Messe in h-Moll, BWV 232
Thomanerchor Leipzig, Miriam Feuersinger (Gesang), Marie Henriette Reinhold (Gesang), Claude Eichenberger (Gesang), Georg Poplutz (Gesang), Henryk Böhm (Gesang), Gewandhausorchester, Ltg. Andreas Reize
Während der nach dem Tode Augusts des Starken 1733 verordneten Landestrauer schwieg in Sachsen die figurale Kirchenmusik. In dieser Zeit verfasste Bach eine groß angelegte Kyrie-Gloria-Messe und bewarb sich in Dresden hiermit um einen Hoftitel. Ob die hierzu eingereichten Stimmen für eine Aufführung genutzt wurden, ist ungeklärt. Später hat Bach drei Sätze des Gloria wohl für einen Festgottesdienst der Leipziger Universität eingerichtet. Ende der 1740er Jahre vervollständigte er das Werk zur Missa tota, wobei er großenteils auf ältere Kantatensätze zurückgriff, die er erheblich umgestaltete. Es gibt Spekulationen, ob er mit einer Aufführung rechnete oder ob er sein Vermächtnis dokumentieren wollte.
Der ältere Teil der autografen Partitur zeigt zahlreiche Korrekturen, die Dresdener Stimmen enthalten wiederum abweichende Lesarten. Das bekannteste Beispiel ist der „lombardische Rhythmus“ im Domine Deus. Übrigens rechnet die Partitur hier mit zwei unisono geführten Flöten, die Stimmen weisen eine Flöte aus. Letzteres hat sich in der Praxis durchgesetzt.
Die Besetzung des Chores ist im Wechsel in vier, fünf, sechs und acht Stimmen aufgeteilt, darüber hinaus weiter differenziert: Die vierstimmigen Sätze Qui tollis und Crucifixus setzen nur den Sopran II ein, das abschließende Dona nobis pacem verlangt den gesamten Chor. Auch in den Violinstimmen finden sich vereinzelte „Solo“-Vermerke. Hier setzt das Konzept der vorliegenden Aufnahmen an. Dem Charakter der jeweiligen Sätze entsprechend variiert die Besetzung des Chores. Auch die Streicher werden mehrfach solistisch eingesetzt, so z. B. in den Ritornellen der Kyrie-I-Fuge.
Die Tempi sind sehr zügig und führen die jugendlichen Sänger stellenweise an ihre Grenzen, besonders im Cum sancto spiritu. Im Christe eleison weichen die Violinen von den originalen Phrasierungen ab und lassen so die Synkopen deutlicher hervortreten. Die Tendenz zu scharfer Artikulation ist in einigen Chorsätzen festzustellen. Das „coll’ arco e staccato“ der Celli im Qui tollis wird etwas plakativ col legno ausgeführt.
Die Aufführung folgt weitgehend der Partitur, bezieht aber auch bewährte Lesarten der Dresdener Stimmen ein. Die vokalen und instrumentalen Solisten zeigen sich durchweg überragend. Dem Konzertmitschnitt liegt jedes stilistische Dogma fern. Der vibratoarme Klang der Streicher ist ganz auf Transparenz gerichtet. Im Sanctus stützt die romantische Sauer-Orgel den ohnehin kraftvollen Gesamtklang. Die Pauke bereichert ihren Part mit zusätzlichen charakteristischen Akzenten, das Cembalo agiert sehr vital. Den stellenweisen Einsatz der Viertklässler begründet Reize: „Wer mit neun Jahren eine Messe in h-Moll singt, vergisst das sein Leben lang nicht.“ Eine Aufführung, die auch den übrigen Mitwirkenden in Erinnerung bleiben mag!
Jürgen Hinz